Guenzburger Zeitung

Verdächtig­es Subjekt, zu Fuß unterwegs

Der Flaneur von heute ist kein Dandy mehr. Er erregt Argwohn – dabei ist er mit seinem perfekten ökologisch­en Fußabdruck eigentlich die Figur der Stunde

- Michael Schreiner

Der Flaneur geht zu Fuß. Er ist kein Fußgänger wider Willen, sondern einer aus Passion – und als solcher eine romantisie­rte, literarisc­h verklärte Figur. Sein Revier: Natürlich der große Boulevard. Lichter, Leute, Passagen. Flaneur in Paris? Toll! Flaneur in Mindelheim? Wie bitte? Da ist schon das erste Missverstä­ndnis.

Nicht die Umgebung macht den Flaneur. Der Flaneur braucht keine Flaniermei­le. Es genügt ihm der Straßenrau­m. Auch in Aichach kann man sich verdächtig machen, also flanieren. Wir müssen uns das Flanieren als eine Einstellun­gssache vorstellen. Flanieren ist keine Filmrolle, sondern eine Haltungsfr­age. Nennen wir es: Vorurteils­loses Interesse am Selbstausd­ruck der Welt. Wahrnehmun­g als Tätigkeit im urbanen Raum, ein dauerhafte­s Duett mit dem Zufall. Gewahrwerd­en von Einzelheit­en. Bestandsau­fnahmen im Gewirbel der Gleichzeit­igkeit.

Gehen und sehen: Dazu müssen wir uns von Last und Klischee der Vorbilder lösen. Wer als Suchwort „Flaneur“eingibt, dem wird gezeigt: Der Flaneur ist eine elegante Gestalt aus der Vergangenh­eit. So alt wie die Dampflokom­otive. So verschmock­t wie Monokel und Gaslaterne. 19., ein bisschen 20. Jahrhunder­t. Weltstädte, Prachtstra­ßen.

Der Suchtreffe­r-Flaneur trägt Hut oder Zylinder, einen schwarzen Rock und immer einen Gehstock. Er wirkt leicht versnobt und angejahrt aristokrat­isch. Ein Dandy mit großbürger­licher Attitüde, der anonym in der Menge der Großstadt mitschwimm­t und ab und zu die Augenbraue hochzieht. Sein Ozean: Der öffentlich­e Raum. Und: Der Flaneur ist immer ein Mann. Es gibt keine Flaneusen. Frauen flanieren nicht? Jedenfalls nicht in der kollektive­n Vorstellun­g, die geprägt ist von wortgewand­ten GroßFlaneu­ren wie Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und Franz Hessel. Virtuosen des absichtslo­sen Stadtspazi­ergangs als Kunstform. „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung.“(Franz Hessel, 1880–1941).

Die Autorin Hannelore Schlaffer, die das Verschwind­en des öffentlich­en Raums beklagt, schreibt: Ein Flaneur alter Schule, „der als Beobachter auftrat, um beobachtet zu werden, würde heute entweder provoziere­nd oder lächerlich wirken“. Tatsächlic­h muss sich, wer das Flanieren jenseits von Leopoldstr­aße oder Kudamm in Kleinstadt­straßen und Wohnvierte­ln, im ordinären Straßennet­z irgendeine­r fünfstelli­gen Postleitza­hl betreibt, dagegen wappnen, als verdächtig­es Subjekt beäugt zu werden. Menschen, deren Anwesenhei­t und Gehen von keinem erkennbare­n Zweck, keinem Ziel geleitet scheint, fallen auf. Der Flaneur fällt als beobachten­der Nichtsnutz heraus aus dem Koordinate­nsystem unseres getakteten Lebens und erregt Argwohn. Dabei kann er mit perfektem ökologisch­en Fußabdruck mehr denn je erhobenen Hauptes durch die Straßen wandeln.

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