Könnte besser laufen
Ständig wird in diesen Tagen über Verkehr diskutiert – über gefährliche SUVs, die Probleme mit E-Scootern und die Sorgen der Radler. Nur: Was ist mit den Fußgängern? Eine Geschichte über vernachlässigte Verkehrsteilnehmer und den täglichen Kampf auf dem Gehweg
Friedberg/München Willi Birnbaum hat die 20 Minuten Fußweg von seinem Haus bis zum Marienplatz in Friedberg fast geschafft. Aber es reicht ihm schon wieder. Weil das doch nicht sein darf, sagt der 68-Jährige und schüttelt den Kopf. Dass die neue Kneipe da vorne in der Ludwigstraße so viele Tische und Stühle draußen stehen hat und für Fußgänger kaum mehr Platz bleibt. „Von den gut drei Metern Gehweg ist vielleicht noch einer übrig“, schimpft Birnbaum. Für Mütter mit Kinderwagen oder für ältere Menschen, die auf den Rollator angewiesen sind, werde der Platz schon knapp – erst recht, wenn sich zwei Menschen entgegenkommen. Natürlich weicht er in diesem Fall aus, sagt Birnbaum. „Der Fußgänger ist doch der, der immer ausweichen muss.“
Und in der Ludwigstraße in Friedberg bei Augsburg muss er das oft. Erst recht an einem Freitagvormittag, wenn sich am Marienplatz die Marktstände aneinanderreihen und es viele in die Stadt zieht. Dann quälen sich die Autos durch die Haupteinkaufsstraße, Lieferwagen verstellen den Gehweg, dazwischen schlängeln sich Radfahrer durch und auch der Bus braucht noch Platz, um in die Ludwigstraße einzubiegen. Martha Reißner, die Dritte Bürgermeisterin, steht auf dem Bürgersteig und schaut sich dieses Schauspiel an. Die SPD-Stadträtin sagt: „Das ist das ganz normale Chaos hier.“Und dass es der Fußgänger in diesem Durcheinander am schwersten hat.
Und das ist ja nicht nur in Friedberg so. Aber während ständig über das diskutiert wird, was auf unseren Straßen vorgeht, darüber, wie man die schädlichen Diesel aus den Innenstädten verbannt und ob diese großen SUVs nicht zu gefährlich sind, darüber, dass ein paar Leute viel zu schnell auf E-Scootern dahinbrettern, und wie man es schafft, dass mehr Menschen aufs Fahrrad umsteigen, spricht kaum jemand von den Fußgängern.
Woran liegt es, dass der Fußgänger unter den Verkehrsteilnehmern der am meisten vernachlässigte ist? Weil er nicht motorisiert ist? Weil er nun mal geht und nicht fährt? Oder fehlt ihm schlicht die Lobby?
Es gibt Bernd Irrgang. Der Senior, 74, Glatze und weißer Bart, fährt auch Auto – natürlich. Manchmal auch Fahrrad. Vor allem aber betrachtet Irrgang die Welt aus der Perspektive derer, die zu Fuß unterwegs sind. Denn er ist Vorsitzender des Bundes der Fußgänger. Als solcher kämpft der Verband nach eigenem Bekunden um die Rechte der mehr als 80 Millionen Fußgänger in Deutschland. Nur, Beachtung finden andere, räumt Irrgang ein. Der Automobilklub ADAC hat 20 Millionen Mitglieder, der FahrradLobby-Verein ADFC immerhin mehr als 185 000. Und der Bund der Fußgänger, den es seit über 30 Jahren gibt? Um die 100, sagt Irrgang.
Was aber nicht heißt, dass die Probleme der Fußgänger deswegen geringer wären. Im Gegenteil. Wer sie verstehen will, sagt Irrgang, muss nur in den Innenstädten von A nach B gehen. In Friedberg. In Augsburg. Oder anderswo. Und den „Verdrängungswettbewerb“beobachten, von dem er spricht. Weil sich auf dem Gehweg inzwischen alles Mögliche ausbreite. Da stellen Autofahrer ihre Fahrzeuge ab, da parken E-Scooter, da sind Radfahrer unterwegs – in der Regel unerlaubt. Hinzu kommt das Mobiliar von Straßencafés, Plakatständer, Auslagen, solche Sachen. „Die Bürgersteige werden immer schmaler und von immer mehr Menschen benutzt“, sagt Irrgang. Und die Leidtragenden seien die, die es dort am schwersten haben – Senioren, Eltern mit Kinderwagen, blinde Menschen.
In Berlin haben vor einem Monat 200 Fußgänger ihrem Ärger Luft gemacht – mit einem Demonstratiauf dem Alexanderplatz. Organisiert hat den Protest der Fachverband Fußverkehr Deutschland (Fuss), auch Seniorenvertreter und der Blinden- und Sehbehindertenverband waren dabei. „Fußgänger sind die größte und die am stärksten vernachlässigte Gruppe im Stadtverkehr“, kritisiert Fuss-Sprecher Roland Stimpel. Und dass durch neue Gefährte wie E-Scooter keine Mobilität geschaffen werde, sondern vernichtet.
Einen ersten Erfolg hat der Verein erzielt. Er hat durchgesetzt, dass E-Scooter nicht auf dem Bürgersteig fahren dürfen. Trotzdem, sagt Stimpel, machen die Roller Probleme. Weil sie dort stehen und liegen, wo sie nicht sollen. Doch der Verein hat bereits einen neuen Kampf aufgenommen – gegen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU), „Deutschlands führenden Fußgänger-Gegner“, wie ihn Stimpel nennt. Der will in der neuen Straßenverkehrsordnung regeln, dass Fahrräder künftig nicht mehr am Fahrbahnrand, sondern nur noch auf Gehwegen abgestellt werden dürfen. Stimpel denkt an die Lastenräder, die immer größer werden – reinste Fußgänger-Schikane, sagt er.
Wobei das Problem ja ein größeres ist. Der Platz in den Innenstädten wird immer knapper. Und damit auch die Frage drängender, wie man ihn gerecht verteilt. Wie viel Platz brauchen die Autofahrer? Wie viel der öffentliche Nahverkehr? Wie schafft man zusätzliche Radwege? Vor allem: Wem nimmt man diesen Platz weg? Dem Fußgänger?
Es sind Fragen, mit denen sich Jochen Eckart beschäftigt. Der Veronszug kehrsökologe von der Hochschule Karlsruhe sagt: „Der Fußgänger ist ein unbekanntes Wesen.“Weil man sich auch in der Forschung bislang lieber mit Auto- oder Radverkehr beschäftigt hat. Sicher – von A nach B zu gehen, ist gesund, effizient, kostengünstig, aber nicht gerade interessant genug für die Forschung. Weil Menschen das eben schon immer tun. Weil es die einfachste aller Mobilitätsformen ist.
Trotzdem, sagt Eckart, kann man einiges über den Fußgänger lernen. Zum Beispiel, dass er genügsam ist. Dass er auch mal mit einer Engstelle zurechtkommt, aber keine Umwege mag. Dass er sich am wohlsten auf einem Gehweg von 2,50 Metern Breite fühlt und gestört von falsch parkenden Autos, mehr aber noch von rücksichtslosen Radlern. Eckart ist überzeugt, dass es sich lohnt, mehr für Passanten in Städten zu tun. „Fußgänger machen keinen Lärm, sie verschmutzen die Luft nicht. Und sie machen eine Stadt attraktiv.“Weil Menschen, die eine Stadt bevölkern, sie letztlich erst lebenswert machen.
Vielerorts hat schon ein Umdenken eingesetzt. Der Luise-Kiesselbach-Platz in München ist ein gutes Beispiel dafür. Vor einigen Jahren noch quälten sich täglich mehr als 100000 Lastwagen und Autos über die Kreuzung im Südwesten der Stadt. Der Mittlere Ring wurde dort unter die Erde verlegt. Über dem Tunnel ist ein autofreier Park entstanden mit Spazierwegen, Grünfläche und Parkbänken. Oder die Ludwigsbrücke am Deutschen Museum: Wenn das Bauwerk ab kommendem Jahr saniert wird, soll es für die Autofahrer statt bisher vier nur noch zwei Spuren geben – eine in jede Richtung. Stattdessen: mehr Platz für Fußgänger, Radfahrer und die Trambahn-Haltestelle vor dem Deutschen Museum. Die einen nennen es den Anfang einer Verkehrswende, einen wichtigen Moment für die Stadt. Die anderen fragen, welchen Sinn das hat, wenn man die Staus stattdessen auf die benachbarten Isarbrücken verlegt?
Und in Friedberg? Dort hat man in der Ludwigstraße vor Jahren „Shared Space“eingeführt – ein gemeinsamer Verkehrsraum mit Tempo 20. Die Bordsteige wurden auf Fahrbahnhöhe abgesenkt und nur durch eine Rinne von der Fahrbahn getrennt. Die Idee dahinter: Der Verkehr soll sich von selbst verlangsamen, weil alle aufeinander achten müssen. An vielen Standorten habe sich dieses Konzept bewährt, sagt Verkehrsökologe Eckart.
Martha Reißner, die SPD-Stadträtin, hat den Gegenbeweis vor Augen. „Das funktioniert hinten und vorne nicht.“Weil viele Autos schneller als 20 fahren, weil zu wenige auf rechts vor links achten, weil Fahrzeuge dort parken, wo sie nicht sollen, manche Radler statt des schwer zu meisternden Kopfsteinpflasters den Gehsteig nehmen und
„Es sind einfach viel zu viele Autos in der Stadt.“Martha Reißner
„Die Bürgersteige werden immer schmaler.“Bernd Irrgang
die Fußgänger am Ende das Nachsehen haben. „Es sind einfach viel zu viele Autos“, sagt Reißner.
Zwei Mal hat die SPD-Frau im Stadtrat beantragt, die Ludwigstraße zur Einbahnstraße zu machen – ohne Erfolg. Auch der Versuch, dort zeitlich beschränkt eine Fußgängerzone einzurichten, scheiterte. Schon, weil sich die Geschäftsleute dagegen wehrten und sich der Verkehr nur in die schmaleren Seitenstraßen verlagerte. Wie es jetzt weitergeht? Martha Reißner zuckt mit den Schultern.
Jasmine Reischl kommt jede Woche mit dem Fahrrad nach Friedberg, am liebsten am Marktfreitag. „Das ist eine Unruhe hier mit diesem Durchgangsverkehr“, sagt sie. Und dass man ja froh sein müsse, dass nicht längst etwas passiert ist. Etwa am Altstadtcafé, wo die Kellner die Bestellungen auf die andere Straßenseite tragen müssen – vorbei an all den Autos, die durchwollen. „Friedberg ist so ein schönes Städtchen“, sagt Reischl. „Man müsste es doch endlich mal schaffen, hier eine Fußgängerzone einzurichten.“