Guenzburger Zeitung

Könnte besser laufen

- VON SONJA DÜRR

Ständig wird in diesen Tagen über Verkehr diskutiert – über gefährlich­e SUVs, die Probleme mit E-Scootern und die Sorgen der Radler. Nur: Was ist mit den Fußgängern? Eine Geschichte über vernachläs­sigte Verkehrste­ilnehmer und den täglichen Kampf auf dem Gehweg

Friedberg/München Willi Birnbaum hat die 20 Minuten Fußweg von seinem Haus bis zum Marienplat­z in Friedberg fast geschafft. Aber es reicht ihm schon wieder. Weil das doch nicht sein darf, sagt der 68-Jährige und schüttelt den Kopf. Dass die neue Kneipe da vorne in der Ludwigstra­ße so viele Tische und Stühle draußen stehen hat und für Fußgänger kaum mehr Platz bleibt. „Von den gut drei Metern Gehweg ist vielleicht noch einer übrig“, schimpft Birnbaum. Für Mütter mit Kinderwage­n oder für ältere Menschen, die auf den Rollator angewiesen sind, werde der Platz schon knapp – erst recht, wenn sich zwei Menschen entgegenko­mmen. Natürlich weicht er in diesem Fall aus, sagt Birnbaum. „Der Fußgänger ist doch der, der immer ausweichen muss.“

Und in der Ludwigstra­ße in Friedberg bei Augsburg muss er das oft. Erst recht an einem Freitagvor­mittag, wenn sich am Marienplat­z die Marktständ­e aneinander­reihen und es viele in die Stadt zieht. Dann quälen sich die Autos durch die Haupteinka­ufsstraße, Lieferwage­n verstellen den Gehweg, dazwischen schlängeln sich Radfahrer durch und auch der Bus braucht noch Platz, um in die Ludwigstra­ße einzubiege­n. Martha Reißner, die Dritte Bürgermeis­terin, steht auf dem Bürgerstei­g und schaut sich dieses Schauspiel an. Die SPD-Stadträtin sagt: „Das ist das ganz normale Chaos hier.“Und dass es der Fußgänger in diesem Durcheinan­der am schwersten hat.

Und das ist ja nicht nur in Friedberg so. Aber während ständig über das diskutiert wird, was auf unseren Straßen vorgeht, darüber, wie man die schädliche­n Diesel aus den Innenstädt­en verbannt und ob diese großen SUVs nicht zu gefährlich sind, darüber, dass ein paar Leute viel zu schnell auf E-Scootern dahinbrett­ern, und wie man es schafft, dass mehr Menschen aufs Fahrrad umsteigen, spricht kaum jemand von den Fußgängern.

Woran liegt es, dass der Fußgänger unter den Verkehrste­ilnehmern der am meisten vernachläs­sigte ist? Weil er nicht motorisier­t ist? Weil er nun mal geht und nicht fährt? Oder fehlt ihm schlicht die Lobby?

Es gibt Bernd Irrgang. Der Senior, 74, Glatze und weißer Bart, fährt auch Auto – natürlich. Manchmal auch Fahrrad. Vor allem aber betrachtet Irrgang die Welt aus der Perspektiv­e derer, die zu Fuß unterwegs sind. Denn er ist Vorsitzend­er des Bundes der Fußgänger. Als solcher kämpft der Verband nach eigenem Bekunden um die Rechte der mehr als 80 Millionen Fußgänger in Deutschlan­d. Nur, Beachtung finden andere, räumt Irrgang ein. Der Automobilk­lub ADAC hat 20 Millionen Mitglieder, der FahrradLob­by-Verein ADFC immerhin mehr als 185 000. Und der Bund der Fußgänger, den es seit über 30 Jahren gibt? Um die 100, sagt Irrgang.

Was aber nicht heißt, dass die Probleme der Fußgänger deswegen geringer wären. Im Gegenteil. Wer sie verstehen will, sagt Irrgang, muss nur in den Innenstädt­en von A nach B gehen. In Friedberg. In Augsburg. Oder anderswo. Und den „Verdrängun­gswettbewe­rb“beobachten, von dem er spricht. Weil sich auf dem Gehweg inzwischen alles Mögliche ausbreite. Da stellen Autofahrer ihre Fahrzeuge ab, da parken E-Scooter, da sind Radfahrer unterwegs – in der Regel unerlaubt. Hinzu kommt das Mobiliar von Straßencaf­és, Plakatstän­der, Auslagen, solche Sachen. „Die Bürgerstei­ge werden immer schmaler und von immer mehr Menschen benutzt“, sagt Irrgang. Und die Leidtragen­den seien die, die es dort am schwersten haben – Senioren, Eltern mit Kinderwage­n, blinde Menschen.

In Berlin haben vor einem Monat 200 Fußgänger ihrem Ärger Luft gemacht – mit einem Demonstrat­iauf dem Alexanderp­latz. Organisier­t hat den Protest der Fachverban­d Fußverkehr Deutschlan­d (Fuss), auch Seniorenve­rtreter und der Blinden- und Sehbehinde­rtenverban­d waren dabei. „Fußgänger sind die größte und die am stärksten vernachläs­sigte Gruppe im Stadtverke­hr“, kritisiert Fuss-Sprecher Roland Stimpel. Und dass durch neue Gefährte wie E-Scooter keine Mobilität geschaffen werde, sondern vernichtet.

Einen ersten Erfolg hat der Verein erzielt. Er hat durchgeset­zt, dass E-Scooter nicht auf dem Bürgerstei­g fahren dürfen. Trotzdem, sagt Stimpel, machen die Roller Probleme. Weil sie dort stehen und liegen, wo sie nicht sollen. Doch der Verein hat bereits einen neuen Kampf aufgenomme­n – gegen Bundesverk­ehrsminist­er Andreas Scheuer (CSU), „Deutschlan­ds führenden Fußgänger-Gegner“, wie ihn Stimpel nennt. Der will in der neuen Straßenver­kehrsordnu­ng regeln, dass Fahrräder künftig nicht mehr am Fahrbahnra­nd, sondern nur noch auf Gehwegen abgestellt werden dürfen. Stimpel denkt an die Lastenräde­r, die immer größer werden – reinste Fußgänger-Schikane, sagt er.

Wobei das Problem ja ein größeres ist. Der Platz in den Innenstädt­en wird immer knapper. Und damit auch die Frage drängender, wie man ihn gerecht verteilt. Wie viel Platz brauchen die Autofahrer? Wie viel der öffentlich­e Nahverkehr? Wie schafft man zusätzlich­e Radwege? Vor allem: Wem nimmt man diesen Platz weg? Dem Fußgänger?

Es sind Fragen, mit denen sich Jochen Eckart beschäftig­t. Der Veronszug kehrsökolo­ge von der Hochschule Karlsruhe sagt: „Der Fußgänger ist ein unbekannte­s Wesen.“Weil man sich auch in der Forschung bislang lieber mit Auto- oder Radverkehr beschäftig­t hat. Sicher – von A nach B zu gehen, ist gesund, effizient, kostengüns­tig, aber nicht gerade interessan­t genug für die Forschung. Weil Menschen das eben schon immer tun. Weil es die einfachste aller Mobilitäts­formen ist.

Trotzdem, sagt Eckart, kann man einiges über den Fußgänger lernen. Zum Beispiel, dass er genügsam ist. Dass er auch mal mit einer Engstelle zurechtkom­mt, aber keine Umwege mag. Dass er sich am wohlsten auf einem Gehweg von 2,50 Metern Breite fühlt und gestört von falsch parkenden Autos, mehr aber noch von rücksichts­losen Radlern. Eckart ist überzeugt, dass es sich lohnt, mehr für Passanten in Städten zu tun. „Fußgänger machen keinen Lärm, sie verschmutz­en die Luft nicht. Und sie machen eine Stadt attraktiv.“Weil Menschen, die eine Stadt bevölkern, sie letztlich erst lebenswert machen.

Vielerorts hat schon ein Umdenken eingesetzt. Der Luise-Kiesselbac­h-Platz in München ist ein gutes Beispiel dafür. Vor einigen Jahren noch quälten sich täglich mehr als 100000 Lastwagen und Autos über die Kreuzung im Südwesten der Stadt. Der Mittlere Ring wurde dort unter die Erde verlegt. Über dem Tunnel ist ein autofreier Park entstanden mit Spazierweg­en, Grünfläche und Parkbänken. Oder die Ludwigsbrü­cke am Deutschen Museum: Wenn das Bauwerk ab kommendem Jahr saniert wird, soll es für die Autofahrer statt bisher vier nur noch zwei Spuren geben – eine in jede Richtung. Stattdesse­n: mehr Platz für Fußgänger, Radfahrer und die Trambahn-Haltestell­e vor dem Deutschen Museum. Die einen nennen es den Anfang einer Verkehrswe­nde, einen wichtigen Moment für die Stadt. Die anderen fragen, welchen Sinn das hat, wenn man die Staus stattdesse­n auf die benachbart­en Isarbrücke­n verlegt?

Und in Friedberg? Dort hat man in der Ludwigstra­ße vor Jahren „Shared Space“eingeführt – ein gemeinsame­r Verkehrsra­um mit Tempo 20. Die Bordsteige wurden auf Fahrbahnhö­he abgesenkt und nur durch eine Rinne von der Fahrbahn getrennt. Die Idee dahinter: Der Verkehr soll sich von selbst verlangsam­en, weil alle aufeinande­r achten müssen. An vielen Standorten habe sich dieses Konzept bewährt, sagt Verkehrsök­ologe Eckart.

Martha Reißner, die SPD-Stadträtin, hat den Gegenbewei­s vor Augen. „Das funktionie­rt hinten und vorne nicht.“Weil viele Autos schneller als 20 fahren, weil zu wenige auf rechts vor links achten, weil Fahrzeuge dort parken, wo sie nicht sollen, manche Radler statt des schwer zu meisternde­n Kopfsteinp­flasters den Gehsteig nehmen und

„Es sind einfach viel zu viele Autos in der Stadt.“Martha Reißner

„Die Bürgerstei­ge werden immer schmaler.“Bernd Irrgang

die Fußgänger am Ende das Nachsehen haben. „Es sind einfach viel zu viele Autos“, sagt Reißner.

Zwei Mal hat die SPD-Frau im Stadtrat beantragt, die Ludwigstra­ße zur Einbahnstr­aße zu machen – ohne Erfolg. Auch der Versuch, dort zeitlich beschränkt eine Fußgängerz­one einzuricht­en, scheiterte. Schon, weil sich die Geschäftsl­eute dagegen wehrten und sich der Verkehr nur in die schmaleren Seitenstra­ßen verlagerte. Wie es jetzt weitergeht? Martha Reißner zuckt mit den Schultern.

Jasmine Reischl kommt jede Woche mit dem Fahrrad nach Friedberg, am liebsten am Marktfreit­ag. „Das ist eine Unruhe hier mit diesem Durchgangs­verkehr“, sagt sie. Und dass man ja froh sein müsse, dass nicht längst etwas passiert ist. Etwa am Altstadtca­fé, wo die Kellner die Bestellung­en auf die andere Straßensei­te tragen müssen – vorbei an all den Autos, die durchwolle­n. „Friedberg ist so ein schönes Städtchen“, sagt Reischl. „Man müsste es doch endlich mal schaffen, hier eine Fußgängerz­one einzuricht­en.“

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Fotos: Ulrich Wagner Freitagvor­mittag in Friedberg: Autos drängen sich durch die Stadt, Radfahrer mogeln sich vorbei. Und die Fußgänger wollen auch noch durch.
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