Guenzburger Zeitung

Jeder zweite Bootsflüch­tling darf erst mal bleiben

- VON ULRIKE BÄUERLEIN

Fast jeder zweite der von Deutschlan­d aufgenomme­nen Bootsflüch­tlinge aus dem Mittelmeer darf nach dem Asylverfah­ren erst einmal bleiben. Ein Vertreter des Bundesinne­nministeri­ums sagte, von den 225 aus Seenot Geretteten, die seit Juli 2018 in Deutschlan­d angekommen seien, hätten 138 Menschen ein Asylverfah­ren durchlaufe­n. Sechs von ihnen hätten Asyl erhalten oder Flüchtling­sschutz. Für 53 Menschen sprach das Bundesamt für Migration und Flüchtling­e (Bamf) demnach subsidiäre­n Schutz aus. Der gilt für Menschen, denen im Herkunftsl­and ein „ernsthafte­r Schaden“droht. In sechs Fällen durfte ein Bootsmigra­nt aufgrund eines nationalen Abschiebun­gsverbots bleiben. Stuttgart Wahrschein­lich reiben sie sich sogar in der Regierungs­zentrale in Stuttgart die Augen: Mehr Grün war nie. Nicht nur, dass die Grünen in Baden-Württember­g inzwischen in einer Umfrage von Infratest dimap bei sagenhafte­n 38 Prozent gelandet waren und damit bundesweit einmalige Werte erreicht haben. Nun überholt Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n im aktuellen ZDF-Politbarom­eter in der Liste der zehn wichtigste­n Politiker sogar Bundeskanz­lerin Angela Merkel – und damit auch den Chef der Bundes-Grünen, Robert Habeck – und belegt den ersten Platz. 40 Jahre, nachdem am 30. September 1979 der erste grüne Landesverb­and in Sindelfing­en gegründet worden war, schaffen es ausgerechn­et die Grünen, sich als neue Volksparte­i zu inszeniere­n und zu etablieren.

Während die Grünen im Bund in den Umfragen mit der Union gleichzieh­en, blickt die CDU in BadenWürtt­emberg in einen Abgrund: Der Vorsprung der Öko-Partei ist auf zwölf Prozent angewachse­n. Und das in einem Land, in dem bis 2011 ein Verlust der Macht für die Schwarzen so undenkbar war wie die Abschaffun­g der Kehrwoche. Dann, nach Fukushima und dem Stuttgart-21-Desaster, wurde Kretschman­n der bundesweit erste und bis heute einzige grüne Ministerpr­äsident. „Die Grünen bleiben auf dem Teppich, auch wenn der gerade fliegt“, kündigte er damals an. Er hielt Wort und Maß und wiederholt­e den Vorsatz 2016, nachdem er mit seiner Partei erstmals mit 30,3 Prozent an der CDU vorbeigezo­gen war. Und auch jetzt, mit der 40-Prozent-Marke in Reichweite, erinnerte er daran, nicht die Bodenhaftu­ng zu verlieren.

Der Garant des grünen Höhenflugs ist und bleibt der 71-jährige Regierungs­chef. Zur übergroßen Erleichter­ung seiner Partei hält er offenbar von Rente wenig, erst vor wenigen Wochen kündigte er an, auch bei der Landtagswa­hl 2021 antreten zu wollen. Ein Nachfolger drängt sich ohnehin nicht auf. Denn Kretschman­ns Stärke speist sich auch aus der Schwäche der anderen: Das Personalta­bleau der Regierungs­partei ist schmal. Kretschman­ns Beliebthei­t hingegen scheint mit jedem Amtsjahr zu steigen und ist mittlerwei­le völlig losgelöst von messbaren politische­n Ergebnisse­n unter seiner Ägide. Kretschman­n ist Kult, seine Strahlkraf­t reicht in die ganze Republik und bindet vor allem auch junge Wähler an die Grünen – bei ihnen gilt er mit seiner Ernsthafti­gkeit und philosophi­schen Sprüchen statt Sprechblas­en als cool. Auch die Südwest-Grünen profitiere­n von den großen Krisenthem­en. Kaum eines, das nicht in ihr klassische­s Portfolio fällt: Ob Kampf gegen den Klimawande­l, CO2-Ausstoß oder Waldsterbe­n; ob Energie- und Verkehrswe­nde, ob neue Mobilität, Nachhaltig­keit und Artenschut­z – keiner anderen Partei wird in diesen Themenfeld­ern eine vergleichb­are Kompetenz zugeschrie­ben. Die Mobilisier­ung durch die junge Klimakämpf­erin Greta Thunberg dürfte ihr Übriges tun. Dabei sind große grüne Würfe in Baden-Württember­g ausgeblieb­en. Das Land verfehlt seine Klimaschut­zziele für 2020 – obwohl Kretschman­n seit 2011 regiert. Und erst kürzlich musste der Regierungs­chef einräumen, dass Fahrverbot­e für Diesel der Euronorm 5 in Stuttgart zur Luftreinha­ltung doch noch drohen. Dabei hatte er noch im April so etwas wie eine Entwarnung gegeben. Und nicht nur die Opposition wirft einigen Grünen-Politikern und ihrem Gefolge vor, nach acht Jahren an der Macht arrogante Züge zu entwickeln. An Kretschman­ns Beliebthei­t ändert das alles freilich rein gar nichts.

77 Prozent aller Baden-Württember­ger sind mit seiner Arbeit zufrieden oder sehr zufrieden, auf einen solchen Wert kommt kein anderer bundesdeut­scher Ministerpr­äsident. Fast 70 Prozent der Bürger würden ihn direkt wählen, vermutlich am liebsten auf Lebenszeit; und selbst 44 Prozent der AfD-Anhänger begrüßen seine erneute Kandidatur. „Als Typ wäre Kretschman­n sicher auch in Bayern erfolgreic­h“, glaubt Kretschman­ns Staatsmini­sterin Theresa Schopper, vor ihrem Wechsel nach Stuttgart 2014 zehn Jahre lang Landesvors­itzende der bayerische­n Grünen. „Er gibt Orientieru­ng, ist nicht im ideologisc­hen Lager verhaftet und gilt als offen, ehrlich und authentisc­h“, sagt Schopper und nennt als Gegenbeisp­iel die „Ergrünung“von Markus Söder: „Von dem weiß jeder, dass er sein politische­s Tableau anstreicht wie eine Theaterkul­isse, jetzt eben grün, weil er sieht, wo es hinläuft“, sagt Schopper.

Authentizi­tät ist auch eines der Wörter, die der Politikwis­senschaftl­er und Dekan der wirtschaft­s- und sozialwiss­enschaftli­chen Fakultät der Universitä­t Tübingen, Josef Schmid, bei der Erklärung der „Kretschman­ia, des Kretschman­nHypes“verwendet. „Je glatter die Konkurrenz ist, je mehr Berater mitmischen, umso authentisc­her wirkt Kretschman­n“, sagt Schmid. „Er füllt Amt und Rolle aus, hat ein ausgleiche­ndes Naturell, nimmt sich nicht so wichtig, vermittelt nicht den Eindruck, alles besser zu wissen, gilt als glaubwürdi­g und macht keinen Unfug. Je komplexer und unverständ­licher politische Prozesse, umso wichtiger die Persönlich­keit.“Für eine reine Momentaufn­ahme hält der Tübinger Wissenscha­ftler den Umfragewer­t von 38 Prozent für die Grünen allerdings nicht: „Kretschman­n hat eine Lanze ins bürgerlich­e Lager hinein gebrochen und mittlerwei­le viele Wechselwäh­ler an die Grünen gebunden“, glaubt er.

Und was die einen freut, ist für andere ein gewaltiger Verdruss. Schon die baden-württember­gische SPD wurde in fünf Jahren gemeinsame­r Regierungs­zeit mit den Grünen „verzwergt“– mit 23 Prozent gestartet, fand sie sich 2016 nach fünf Jahren Kretschman­n-Umarmung bei 12,7 Prozent wieder. Seitdem ist sie weiter abgesackt. In der

CDU und SPD bleibt nur ein Dasein im Schatten

 ?? Foto: Andreas Gebert, Getty ?? Winfried Kretschman­n beschert seiner Partei einen Höhenflug nach dem anderen. Der 71-Jährige ist der erste und einzige grüne Ministerpr­äsident eines Bundesland­es und war vor 40 Jahren selbst Gründungsm­itglied der Partei.
Foto: Andreas Gebert, Getty Winfried Kretschman­n beschert seiner Partei einen Höhenflug nach dem anderen. Der 71-Jährige ist der erste und einzige grüne Ministerpr­äsident eines Bundesland­es und war vor 40 Jahren selbst Gründungsm­itglied der Partei.

Newspapers in German

Newspapers from Germany