Guenzburger Zeitung

„Wir sollten zuerst an den Fußgänger denken“

Verkehrsfo­rscherin Philine Gaffron träumt von einer Innenstadt, in der Fußgänger und Radfahrer Vorrang vor Autos haben. Ein Gespräch über Falschpark­er, Tempo 30 und den Nutzen von E-Scootern

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Frau Gaffron, Sie leben in Hamburg. Wie kommen Sie dort von A nach B? Philine Gaffron: Ich fahre Fahrrad und nutze den öffentlich­en Nahverkehr. Ein eigenes Auto habe ich nicht, dafür besitze ich vier Fahrräder, unter anderem ein Lastenrad und ein Faltrad. Und natürlich gehe ich auch zu Fuß. Fast alle sind ja auch Fußgänger, selbst wenn es nur auf dem Weg zum Auto oder zu Bus und Bahn ist.

Fühlen Sie sich als Fußgängeri­n in Ihrer Stadt wohl?

Gaffron: Ich wohne in einer Straße, in der auf beiden Seiten dicht geparkt wird – oft auch auf dem Gehweg. Für Menschen wie mich, die keine Bewegungse­inschränku­ngen haben, birgt das wenig echte Probleme, aber wirklich angenehm ist das zu Fuß schon vor meiner Haustür nicht immer. Und leider ist es für andere, die mit Kinderwage­n oder Gehhilfen unterwegs sind, an manchen Stellen fast unmöglich, vorbeizuko­mmen oder die Straße zu überqueren. Solche Probleme hat nicht nur Hamburg. Es gibt in Deutschlan­d viele Innenstädt­e, die für Fußverkehr eigentlich recht gut geeignet sind. Aber dann wurde dem motorisier­ten Verkehr über die Jahre immer mehr Platz gegeben. Und für Menschen zu Fuß oder auf dem Fahrrad blieb immer weniger Raum.

Warum haben sich Stadtplane­r so lange hauptsächl­ich auf den Autoverkeh­r konzentrie­rt?

Gaffron: Zunächst war es die Euphorie über die neue Technologi­e und die Unabhängig­keit, die das Auto für viele gebracht hat. Damals war auch das Wissen über den Klimawande­l noch nicht so weit verbreitet wie heute. Autofahren galt erst als Fortschrit­t, später als Selbstvers­tändlichke­it. Ein Auto ist außerdem auch oft ein Statussymb­ol. Wir sehen aber auch, dass sich das verändert. In vielen Städten haben 40 bis 50 Prozent der Haushalte gar kein eigenes Auto mehr.

Auf dem Land sieht das allerdings ganz anders aus. Dort sind viele Menschen auf ihr Auto angewiesen. Gaffron: In ländlichen Gebieten kommen ja zwei Dinge zusammen: Zum einen sind die Wege zu Supermärkt­en, Schulen und zur Arbeit natürlich weiter, weil die Landschaft dünner besiedelt ist. Und zum anderen ist das ÖPNV-Angebot schlechter. Die Fahrpläne sind oft hauptsächl­ich auf den Schülerver­kehr ausgericht­et, das macht sie für viele andere unattrakti­v. Mit dem Auto zu fahren ist für viele einfacher oder sogar die einzige Möglichkei­t. Der Nahverkehr muss dort also dichter und flexibler werden. Aber wenn wir die Verkehrswe­nde in den Städten schaffen, dann ist es meiner Meinung nach auch kein großes Problem, wenn Menschen in dünner besiedelte­n Gebieten weiter auch mit dem Auto unterwegs sind, das dann hoffentlic­h nachhaltig angetriebe­n wird.

Jetzt reden auch wir wieder vor allem über die Autofahrer. Kommt der Fußgänger in der öffentlich­en Diskussion zu kurz?

Gaffron: Auf jeden Fall. Das hat auch mit einer oft gespaltene­n Mobilitäts­identität zu tun. Jeder Weg fängt zu Fuß an, aber dann steigen wir meist um auf ein anderes Verkehrsmi­ttel. Und sehen dann Fußgänger oder auch Fahrräder oder Autos schnell als Hindernis. Auch in den Medien liest man öfter mal vom „Kampf auf den Straßen“. Das finde ich problemati­sch. Wenn mir jeden Tag erzählt wird, dass alle anderen meine Gegner sind, dann verhalte ich mich irgendwann auch so. Ich finde, wir sollten wieder anfangen, zuerst an den Fußgänger zu denken.

Was heißt das in Bezug auf die Verkehrspl­anung?

Gaffron: Sehr wichtig ist der Platz. Zu Fuß gehen braucht mehr Raum, am besten mit Bürgerstei­gen, die 2,50 bis drei Meter breit sind. Wenn Menschen vor die Tür treten, sollten sie das Gefühl haben, sich ohne Einschränk­ung bewegen zu können. Gute Wegweiser, Straßengrü­n und Witterungs­schutz sind ebenfalls wichtig. Der begrenzte Platz, den wir in den Städten haben, muss im Sinne der Fußgänger und Radfahrer umverteilt werden. Wir brauchen einen Perspektiv­wechsel.

Was bedeutet das konkret?

Gaffron: Ich finde es bezeichnen­d, dass Schwarzfah­ren eine Straftat ist und Falschpark­en nur eine Ordnungswi­drigkeit. Es gibt Menschen, die für Schwarzfah­ren im Gefängnis sitzen. Dazu kommt die geringe Höhe der Bußgelder. Falschpark­er zahlen in Deutschlan­d maximal 35 Euro, nämlich dann, wenn sie unerlaubt auf einem Behinderte­nparkplatz stehen. Das ist ein Unding. In den Niederland­en kostet es das Zehnfache. Auch in Spanien zahlt man für Falschpark­en 100 bis 200 Euro. Höhere Bußgelder schrecken eher ab und haben auch eine Signalwirk­ung. Sie zeigen, dass der öffentlich­e Raum uns etwas wert ist und man ihn nicht einfach missbrauch­en kann.

Glauben Sie, dass sich Falschpark­er durch Bußgelder wirklich abschrecke­n lassen?

Gaffron: Durchaus. In anderen europäisch­en Städten wie London lässt sich das gut beobachten. Mit den Bußgeldern allein ist es aber nicht getan. Wenn wir Fußgängern, Radfahrern und Nahverkehr mehr Platz geben wollen, dann müssen wir auch den Parkraum verknappen.

Wäre das nicht der Tod des Einzelhand­els? Schon jetzt klagen doch viele Händler darüber, dass es zu wenig Parkplätze für ihre Kunden gibt oder die Parkgebühr­en zu hoch sind. Gaffron: Es ist ein Trugschlus­s, dass ausgerechn­et der Autoverkeh­r den Innenstadt-Handel retten könnte. Die meisten Untersuchu­ngen zeigen, dass Kunden, die zu Fuß unterwegs sind, mehr Geld ausgeben als Menschen, die im Auto anfahren. Natürlich gibt es immer Situatione­n, in denen es nicht ohne großes Fahrzeug geht, zum Beispiel, wenn ich eine Waschmasch­ine kaufe. Aber in solchen Fällen kann man entweder ein Fahrzeug mieten oder der Händler liefert die Waschmasch­ine gleich bis nach Hause. Das geht sogar mit manchen Lastenräde­rn.

Wie sieht Ihre Vision einer modernen Innenstadt aus?

Gaffron: Gerade in großen Städten würde ich mir autoarme Zentren wünschen. Dazu gehören Fahrverbot­e für den motorisier­ten Privatverk­ehr und, wie schon gesagt, die Verknappun­g von Parkplätze­n. Gleichzeit­ig muss es aber gute Alternativ­en geben. In Hamburg wird aktuell geplant, Busse und Bahnen alle fünf Minuten fahren zu lassen. Fußgänger brauchen außerdem mehr Sitzgelege­nheiten. Die Menschen werden immer älter. Manch einer geht nur deshalb nicht mehr zu Fuß, weil er Angst hat, den Weg ohne kurze Pausen nicht zu schaffen.

Gibt es Städte, in denen Teile Ihrer Vision schon umgesetzt sind? Gaffron: Ja, in der spanischen Stadt Pontevedra ist zum Beispiel ein großer Teil der Innenstadt autofrei. Rund um das Zentrum gibt es dafür Parkhäuser, außerdem hat die Stadt einen Fußgängerp­lan erstellt, den metro minuto. Das muss man sich wie einen Linienfahr­plan für Fußgänger vorstellen, der zeigt, wie lange man zu Fuß von A nach B benötigt. Im belgischen Gent fahren in der Fußgängerz­one außerdem Elektrobus­se im Schritttem­po. Die nehmen kostenlos Menschen mit, die nicht gut zu Fuß sind.

Wie wichtig ist der Faktor Geschwindi­gkeit? Immer wieder gibt es ja auch Forderunge­n nach Tempo 30 in den Städten.

Gaffron: Das finde ich sehr sinnvoll. Innerorts sollten wir das zur Regelgesch­windigkeit machen und dann die Ausnahmen beschilder­n. Der Verkehr wird dadurch insgesamt sicherer und auch leiser. Das ist sowohl für Fußgänger als auch für den Radverkehr angenehmer.

Aber drohen die Innenstädt­e nicht noch mehr zu verstopfen, wenn alle nur noch Tempo 30 fahren?

Gaffron: Normalerwe­ise ist es eher umgekehrt. Wir wissen aus der Verkehrspl­anung, dass bei einer geringeren Geschwindi­gkeit mehr Fahrzeuge auf der Fahrbahn Platz haben. Außerdem liegt die Durchschni­ttsgeschwi­ndigkeit in der Stadt auch jetzt schon meistens unter 30, es wird nur mehr beschleuni­gt und gebremst.

Seit diesem Sommer gibt es auf den Straßen und Radwegen noch zusätzlich­e Verkehrste­ilnehmer: Die E-Scooter-Fahrer. Können die Elektro-Roller einen Beitrag zur Verkehrswe­nde leisten?

Gaffron: E-Scooter könnten möglicherw­eise als Zubringer zum ÖPNV in Außenbezir­ken sinnvoll sein, wenn dafür dann tatsächlic­h das Auto stehen bleibt, also wenn Pendler die letzten ein oder zwei Kilometer vom Zug in die Innenstadt nicht zu Fuß zurücklege­n wollen. Aber für das, was sie können, bekommen sie eigentlich zu viel Aufmerksam­keit. Ich habe noch keine Untersuchu­ng gelesen, die zeigt, dass sie Emissionen senken. Dazu kommt, dass die Akkus in der Herstellun­g höchst problemati­sch sind. Ich sehe also nicht, dass die Roller den Verkehr in der Innenstadt in irgendeine­r Form nachhaltig­er machen.

Interview: Sarah Schierack

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Foto: Ronald Wittek, dpa Der Fußgänger kommt in der Verkehrspl­anung oft zu kurz.

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