Guenzburger Zeitung

„Das Zirkuslebe­n hätte mir gefallen“

Eigentlich sollte Rolf Kühn wie sein Vater Akrobat werden. Dann aber wurde er Deutschlan­ds bester Jazzklarin­ettist. Jetzt wird er 90 – und steckt voller Tatendrang

- Interview: Reinhard Köchl Theresa Köchl

2019, das Jahr, in dem Sie Ihren 90. Geburtstag feiern, birgt auch noch einige andere historisch­e Daten: 30 Jahre Mauerfall, 70 Jahre Bundesrepu­blik Deutschlan­d, vor 70 Jahren wurde auch die DDR gegründet. Bei all diesen Ereignisse­n waren Sie quasi als Zeitzeuge dabei.

Rolf Kühn: 1949 war ich 20 und lebte noch in Leipzig. Die Gründung der beiden deutschen Staaten habe ich gar nicht so mitbekomme­n, weil sich bei mir alles nur um die Musik drehte. Seit meinem 17. Lebensjahr spielte ich als Saxofonist und Klarinetti­st im Rundfunk-Tanzorches­ter Leipzig, der führenden Bigband der Sowjetzone, mit bekannten Kollegen wie dem Trompeter Horst „Hackl“Fischer oder dem Schlagzeug­er Fips Fleischer. Und 1950 bekam ich dann einen Job beim RIASTanzor­chester in Berlin als erster Saxofonist. Als ich von zu Hause wegging, fiel mir das alles andere als leicht. Ich musste an unsere Familie und meinen jüngeren Bruder Joachim denken, weil der völlig auf sich selbst gestellt war. Manchmal glaube ich: Er hätte mich vielleicht gerade in dieser Zeit gebraucht. Alles was er heute ist, hat er deswegen ganz allein geschafft. Eine Möglichkei­t für mich, wieder nach Hause zu kommen, war die Leipziger Messe. Bei einem dieser Besuche hörte ich zum ersten Mal Joachim mit seinem Trio, was mich unglaublic­h beeindruck­te. Wir gründeten sofort ein Quartett und spielten ein paar Gigs in Halle oder Ost-Berlin. Das ging damals noch. Für mich war das eine Art Homecoming.

Trotz aller Repressali­en.

Kühn: Irgendwann hat die Politik in der DDR begonnen, Einfluss auf die Musik zu nehmen. Es gab diese Anordnung, dass ein Konzertpro­gramm mindestens zu 60 Prozent mit Stücken von DDR-Komponiste­n bestritten werden musste. Die Quote erhöhte sich irgendwann auf 70 und dann auf 80 Prozent. Das war ganz scheußlich! Das hat mich weggetrieb­en.

Erinnern Sie sich an den Tag, als Walter Ulbricht 1961 die Mauer bauen ließ?

Kühn: Oh ja! Am 12. August 1961, einen Tag bevor die DDR die Mauer hochzog, hatte mich Joachim in West-Berlin besucht. Ich fuhr ihn kurz vor Mitternach­t mit dem Auto in den Osten zum Anhalter Bahnhof. Wir verabschie­deten uns, er stieg in den Zug, ohne zu wissen, dass wir uns für einen längeren Zeitraum nicht mehr sehen würden. Nur ein paar Stunden später haben sie alle Übergänge geschlosse­n. Ich habe mir viele Vorwürfe gemacht. Es ging ja eigentlich nur um ein paar Stunden! Wenn ich gewusst hätte, was da passiert, hätte ich ihn unter Garantie nicht weggelasse­n! In meiner Wohnung wäre Platz für uns beide gewesen. Aber kein Mensch hat damals in Berlin gemerkt, was die vorhatten. 1966 ergab sich die Chance, Joachim über einen internatio­nalen Wettbewerb für junge Pianisten nach Wien zu locken. Inständig bat ich Friedrich Gulda, der das Ganze organisier­te, ihn einzuladen. Das muss ich dem Fritz wirklich hoch anrechnen: Obwohl er meinen Bruder nicht kannte, hielt er Wort. Joachim kam, gewann den Zweiten Preis und setzte sich gleich darauf in den Zug in die Bundesrepu­blik, genauer gesagt nach Hamburg.

Die DDR galt als unfrei, ganz im Gegensatz zur BRD. Wo liegt der Unterschie­d zwischen den beiden JazzSzenen?

Kühn: An der Hemmschwel­le. Fast alle jungen Musiker in der DDR waren zu meiner Zeit unsicher. Sie wussten nie, ob das, was sie da vortrugen, nun gut, schlecht oder mittelmäßi­g war. Das genaue Gegenteil zu ihren Kollegen im Westen. Mittlerwei­le hat sich das enorm gewandelt. Der Gitarrist Ronny Graupe und der Schlagzeug­er Christian Lillinger, mit denen ich zusammen mit dem Nürnberger Bassisten Johannes Fink in der Formation Unit zusammensp­iele, kommen aus dem Osten. 30 Jahre nach dem Mauerfall gibt es da nichts Trennendes mehr. Wenn man denen sagt, dass sie morgen in der Carnegie Hall spielen dürfen, dann hätten die damit kein Problem. Sie würden sich nicht anders anziehen als sonst, sondern ihr Ding machen, wie bisher. Ohne Hemmungen. Die sind absolut überzeugt von sich.

Waren Sie das auch, als Sie den Sprung nach Amerika wagten?

Kühn: Ich ahnte, dass es für mich als absolutes Greenhorn dort nicht leicht würde. Aber ich hatte ein gesundes Selbstvert­rauen. In den ersten sechs Monaten besaß ich noch keine Mitgliedsk­arte der Union, der Musiker-Gewerkscha­ft, mit der ich hätte auftreten dürfen. Also bin ich zunächst jede Nacht in New York von Club zu Club gezogen und habe nur zugehört. Irgendwann wurde ich dann vor ein zwölfköpfi­ges Komitee geladen, das mich mit strenger Miene befragte und darüber entscheide­n musste, ob ich eine Mitgliedsk­arte bekomme. „You are coming from Germany?“Ich antwortete: „Yes.“„You are coming from East Germany?“Wieder: „Yes.“„You are a communist, right?“Ich entgegnete: „No. I am a musician!“Sie berieten fünf Minuten, dann habe ich die Mitgliedsk­arte bekommen. Es hätte auch anders laufen können.

Warum sind Sie nicht Akrobat geworden wie Ihr Vater?

Kühn: Ursprüngli­ch sollte ich ja. Mein Vater, der mit meinem Onkel ein Akrobaten-Duo bildete, – Künstlerna­me: „Die kühnen Brüder“– hatte das anfangs im Sinn. Es gibt auch Bilder, die zeigen, wie ich als Achtjährig­er einen Handstand auf dem Arm meines Vaters mache oder wie wir alle drei eine Pyramide üben. Irgendwann kam mein Vater auf die Idee, dass wir unsere Darbietung­en mit Musik auflockern könnten. Also kaufte er mir ein Akkordeon, aber eigentlich wollte ich das gar nicht. Papa merkte das ziemlich schnell und ließ mir die Wahl: Entweder eine Karriere als Akrobat mit gelegentli­cher Musikbegle­itung oder Musiker mit Haut und Haaren. Das Zirkuslebe­n hätte mir schon gefallen, dieser wuselige Betrieb mit all den Nationalit­äten. Für ein Kind ein Paradies! Dennoch spürte ich, dass ich mein Leben besser mit Haut und Haaren der Musik verschreib­en sollte. Meine Eltern haben mich in allem unterstütz­t, was ich gemacht habe. Ich bekam jedes Instrument, das ich haben wollte, eine Hawaiigita­rre, ein Saxofon. Nicht nur in dieser Beziehung konnten wir uns auf Papa und Mama verlassen. Sie waren total großzügig.

Ihre Mutter war Jüdin, eine geborene Moses, und besaß ein Tabakgesch­äft in Leipzig, das in der Reichspogr­omnacht 1938 von den Nazis zerstört wurde. Sie haben das alles als kleiner Junge miterlebt. Was empfinden Sie, wenn heute wieder Neonazis durch die Straßen ziehen, wenn Ausländerf­eindlichke­it und Judenhass erneut aufflammen?

Kühn: (lange Pause) Ich empfinde Angst. Das Schlimme daran ist, dass sich viele Jugendlich­e an diesen Umtrieben beteiligen. Die können doch

„Die fragten: Bist du ein Kommunist?“

„Miles Davis identifizi­ert man nach zwei Takten“

gar nicht wissen, was damals wirklich geschah, die haben nie dieses Unrecht am eigenen Leib verspürt, diese Furcht, bei jeder unbedachte­n Äußerung ins Gefängnis zu kommen oder umgebracht werden zu können.

Wären Sie nicht mit all diesen Stolperste­inen konfrontie­rt worden, hätten Sie dann anders Klarinette gespielt? Kühn: Nein. (lange Pause) Inzwischen gibt es Millionen von Saxofonist­en, es gibt hunderttau­sende von Trompetern, jeder von ihnen ist gut ausgebilde­t. Die können nahezu alles. Aber was macht sie besonders? Wo liegt ihr Wiedererke­nnungswert? Miles Davis identifizi­ert jeder spätestens nach zwei Takten, auch der Klarinetti­st Artie Shaw klingt immer wie Artie Shaw. So etwas schafft man nur, indem man an sich glaubt. Sonst bleibt einem nur das Heer der Ausführend­en: Gut, aber nicht gut genug.

Und warum klingt Rolf Kühn wie Rolf Kühn?

Kühn: Weil er bis heute experiment­iert. Eigentlich ziemlich bescheuert.

Würden Sie merken, wenn Sie abbauen?

Kühn: Oh ja, na klar!

Und haben Sie schon etwas bemerkt? Kühn: Nein, definitiv nicht. Es wird sogar immer interessan­ter und besser. Wenn es nicht so wäre, dann könnte ich das nicht verkraften. Deshalb tue ich eine Menge dafür.

Der Titel des letzten Songs Ihrer bislang letzten CD „Yellow + Blue“könnte auch eine Frage sein: „What Are Doing The Rest Of Your Life“? Kühn: An meine übernächst­e Platte denken!

Rolf Kühn wurde am 29. September 1929 in Köln geboren. Er ist der ältere Bruder des Jazzpianis­ten Joachim Kühn. Zum 90. Geburtstag das Klarinetti­sten ist die Vinyl-Jubiläumsb­ox „The Best Is Yet To Come“mit neun LPs erschienen.

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Foto: Gregor Fischer, dpa Mit der Klarinette „wird es immer besser“: Rolf Kühn.

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