Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (75)
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
Bisweilen hielt er still in der einsamen Straße eines verlassenen Dorfes, und sein Kopf war so wüste und leer, daß er ihn in beide Hände faßte, um ihn aus den Schultern zu reißen und auf dem Pflaster zu zerschmettern.
Als die Sonne unterging, warf er einen neuen Blick in sein Inneres und fand, daß er nahe am Wahnwitz sei. Der Sturm, der von dem Augenblicke an in ihm tobte, als er die Hoffnung und den Willen aufgegeben hatte, Esmeralda zu retten, hatte in seiner Seele keine einzige richtige Idee, keinen gesunden Gedanken mehr übrig gelassen. Seine Vernunft lag in tiefem Seelenschlummer. Nur noch zwei bestimmte Bilder schwebten ihm vor: Esmeralda und der Galgen. Alles Andere war schwarz in seiner Seele. Diese beiden Bilder, also zusammengestellt, boten seiner Einbildungskraft eine furchtbare Gruppe dar, und je mehr er seine Gedanken darauf fesselte, um so höher stiegen ihre Gestalten in phantastischer Progression, die
eine an Reiz, an Schönheit, an Glanz, die andere an schauerlicher Nacht, so daß zuletzt Esmeralda ihm als ein glänzendes Gestirn am fernen Himmel, der Galgen als ein Riesenarm erschien, der sich in dunkler Nacht ausstreckt.
Während alle diese Qualen durch seine Seele gingen, kam ihm nicht ein einziges Mal der Gedanke an freiwilligen Tod. So hatte die Natur diesen Elenden geschaffen, er hing fest am Leben. Vielleicht erblickte er hinter dem Vorhang den offenen Schlund der Hölle.
Der Tag neigte sich. Das lebende Wesen, das noch in ihm war, dachte verwirrt an die Rückkehr. Er glaubte sich weit von der Stadt; er sah sich um und fand, daß er bloß die Runde um die Universität gemacht hatte. Auf einsamen Pfaden kehrte er nach Paris zurück, er fürchtete das Angesicht der Menschen. Als er an die Seine kam, stieg er schweigend in ein Schiff und ließ sich den Strom aufwärts rudern. Am Grèveplatze stieg er aus. Es war dunkel, und er erkannte nur undeutlich, gleich den vorübergehenden Gestalten der Phantasmagorie, die Gegenstände um sich her. Die Ermattung eines großen Schmerzes bringt häufig diese Wirkung auf den menschlichen Geist hervor.
Seine Sinne verwirrten sich, Gestalten der Einbildungskraft stiegen in seinem Geiste empor. Er sah weder Straßen noch Menschen in ihrer natürlichen Gestalt, die Steine schienen unter seinen Füßen zu leben, die Menschen schwebten wie nächtliche Schatten an ihm vorüber. Er sah nur noch ein Chaos unbestimmter Gegenstände um sich her, und wußte nicht, woher er kam, noch wohin er ging. Auf der Sct. Michelsbrücke erblickte er ein Licht an einem Fenster im unteren Stocke; er näherte sich. Durch ein zersprungenes Fenster sah er in ein schmutziges Zimmer, dessen Anblick verwirrte Erinnerungen in seinem Geiste erweckte.
In dem Zimmer, das durch eine schwach brennende Lampe erleuchtet war, saß ein junger Mensch, von blonden Haaren und einem vor Vergnügen leuchtenden Gesicht; er umarmte eben mit großem Gelächter ein junges Mädchen, das sehr frech gekleidet war; neben der Lampe saß ein altes Weib, das spann und dazu mit schrillender Stimme sang. Da der junge Mensch nicht fortwährend lachte, so kam der Gesang in Bruchstücken zu den Ohren des Priesters; er klang etwas unverständlich und hexenartig:
Spindel, dreh’ dich an dem
Rocken,
Dreh’ dem Henkel einen Strick! Zu dem Satan auf dem Brocken Hexlein nimmer kehrt zurück.
Frucht nicht, sondern Hanf mußt säen,
Hanf mußt säen, keine Frucht, Hexlein einen Strick zu drehen, Meister nach dem Hexlein sucht.
Nach dem Kind des Höllenlebens Satan auf dem Blocksberg sucht, Meister Satan, suchst vergebens, Erntet seiner Sünden Frucht!
Der junge Mensch unterbrach von Zeit zu Zeit diesen Gesang durch Gelächter und Liebkosungen, die er an die feile Dirne verschwendete. Das Weib war die alte Falourdel, das Mädchen eine öffentliche Dirne und der junge Mensch sein Bruder Johannes.
Der Blick des Priesters war fest auf die Gruppe gerichtet; er kannte dieses Zimmer, er kannte dieses alte Weib. Schauerliche Erinnerungen stiegen in seiner Seele auf, er wollte fliehen und sein Fuß war fest in den Boden gewurzelt.
Jetzt trat sein Bruder Johannes an ein Fenster am entgegengesetzten Ende des Zimmers, öffnete es, blickte den Fluß aufwärts, wo ihm tausend beleuchtete Fenster entgegenstrahlten, und sagte, indem er das Fenster wieder schloß: „Bei meiner armen Seele, es ist schon Nacht! Der liebe Gott zündet seine Sterne und die Pariser Spießbürger ihre Talglichter an.“
Hierauf trat er an den Tisch, zerschlug eine Bouteille und rief zornig: „Schon leer, und ich habe kein Geld mehr! Isabelle, ich wollte, daß der liebe Gott Deine beiden weißen Brüste in zwei schwarze Bouteillen verwandelte, aus denen ich Tag und Nacht Burgunder trinken könnte.“
Das Freudenmädchen lachte über diesen Scherz und der Student ging fort.
Der Archidiakonus hatte kaum noch so viel Zeit übrig, sich auf den Boden zu werfen, um nicht von seinem Bruder erkannt zu werden. Zum Glück war die Straße finster und Johannes Frollo betrunken. Gleichwohl nahm er den auf dem Boden liegenden Archidiakonus wahr.
„Oh! Oh! Da liegt auch Einer, der heute ein fideles Leben Archidiakonus gab kein Lebenszeichen von sich. „Toll und voll!“fuhr der Student fort. „Ein wahrer Blutigel des Weinfasses! Ein Kahlkopf!“fügte er hinzu, indem er sich auf ihn niederbückte, „ein alter betrunkener Mann! Fortunate senex!“
Er entfernte sich, indem er vor sich hinmurmelte: Das ist Alles einerlei! Ja, ja, es ist freilich eine schöne Sache um die Vernunft, und mein Bruder, der Archidiakonus, ist sehr glücklich, daß er so weise ist und Geld hat.
Nachdem sich der Student entfernt hatte, erhob sich der Archidiakonus und rannte athemlos der Liebfrauenkirche zu, deren ungeheure Thürme er in nächtlichem Schatten über die Häuser emporragen sah. Als er auf dem Platze ankam, schauderte er zurück und wagte nicht die Augen zu dem unseligen Gebäude zu erheben. Oh, sagte er leise, ist es denn wahr, daß solches hier vorgegangen ist, hier auf diesem Platze, erst heute, diesen Morgen?“
Er blickte an der Kirche hinauf, sie war so düster als seine Seele. Hinter ihr leuchtete der Himmel von Sternen.
Die Thüre des Klosters war verschlossen, aber der Archidiakonus trug immer den Schlüssel des Thurmes bei sich, in welchem sich sein Laboratorium befand. Mit diesem öffnete er, um in die Kirche zu gelangen.
Drinnen herrschte die Dunkelheit und Stille einer weiten, einsamen Höhle. »76. Fortsetzung folgt