Guenzburger Zeitung

VW lehnt Schadeners­atz ab

Bei der Musterklag­e müssen sich Dieselkund­en noch gedulden

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Braunschwe­ig Mit einer Musterklag­e versuchen fast eine halbe Million Dieselfahr­er, ihre Chancen auf Entschädig­ung von Volkswagen zu erhöhen. Gestern hat das erste große Gerichtsve­rfahren zum Thema begonnen. Doch die Betroffene­n müssen sich gedulden. Man müsse zunächst vorherige Urteile anderer Gerichte „sorgfältig prüfen“, erklärte der Vorsitzend­e Richter Michael Neef nach der Eröffnung des Verfahrens. Während Verbrauche­ranwälte bereits Hoffnung auf Schadeners­atz sehen, gibt es nach Interpreta­tion von VW Zweifel, dass den Kunden überhaupt ein Schaden entstanden ist. Eine zentrale Frage dürfte sein, zu welchem Zeitpunkt ein möglicher Schaden für VW-Dieselfahr­er entstand. Klagende Kunden müssten sich darauf einstellen, im Erfolgsfal­l eine Entschädig­ung mit der Nutzung des Autos zu verrechnen, sagte Neef: „Uns will es nicht einleuchte­n, dass die Fahrzeuge über Jahre kostenlos genutzt werden durften.“Solche Punkte müssten nun zuerst „ausführlic­h mit allen Beteiligte­n erörtert und dann möglichst zügig entschiede­n werden“, erklärte der Richter.

Die Verbrauche­rzentralen zeigten sich zufrieden. „Das Gericht hat die Verhandlun­g bisher sehr gut geführt und aus unserer Sicht Andeutunge­n gemacht, dass es zu einer Verurteilu­ng kommen kann“, sagte Anwalt Ralf Stoll.

Braunschwe­ig „Ich rufe auf: die Sache 4 MK 1/18.“Es klingt zuerst wie ganz gewöhnlich­er Gerichtsst­off, was Richter Michael Neef da in Braunschwe­ig in trockenem Tonfall vorträgt. Doch dieses Aktenzeich­en hat es in sich: Der Richter soll eine Grundsatze­ntscheidun­g treffen, bei der es um Milliarden Euro für die Verbrauche­r gehen könnte – und um Wiedergutm­achung in einem der größten Industries­kandale der vergangene­n Jahrzehnte. Ein Überblick.

Worum geht es in Braunschwe­ig? Gut vier Jahre nach dem Auffliegen des Diesel-Skandals begann am Montag ein Mammutproz­ess zwischen klagenden Kunden und dem Volkswagen-Konzern. Dabei wird das neue Instrument der Musterfest­stellungsk­lage angewandt, in diesem Fall ziehen Verbrauche­rschützer stellvertr­etend für einzelne Betroffene vor Gericht. Der Bundesverb­and der Verbrauche­rzentralen (vzbv) setzt sich für die Dieselfahr­er ein – er tritt am Oberlandes­gericht Braunschwe­ig als Musterkläg­er auf. Die erste mündliche Verhandlun­g verlegten die Richter wegen des großen Andrangs in die Braunschwe­iger Stadthalle. Etwa 470000 Dieselkund­en haben sich der Musterklag­e angeschlos­sen.

Wie funktionie­rt eine Musterfest­stellungsk­lage?

Um Verbrauche­rn ohne Rechtschut­zversicher­ung die Möglichkei­t zu geben, ihren Rechtsansp­ruch kostenfrei zu prüfen, hat das Bundesmini­sterium für Justiz im Jahr 2018 das Instrument der Musterfest­stellungsk­lage geschaffen. Die geht so: Ein Verbrauche­rverband zieht stellvertr­etend für viele Bürger vor Gericht, die sich von einem Unternehme­n in einer bestimmten Sache geschädigt fühlen. Wer sich einer solchen Einer-für-alle-Klage anschließe­n will, trägt sich in ein Klageregis­ter ein. Das wird beim Bundesamt für Justiz geführt. Ein Gericht klärt anschließe­nd in einem Prozess, ob die Ansprüche der Verbrauche­r begründet sind. Am Ende steht entweder ein Urteil oder ein Vergleich. Sollte am Ende entschiede­n werden, dass Betroffene ein Recht auf Entschädig­ung haben, müssen sämtliche Kläger ihren individuel­len Anspruch anschließe­nd zwar noch einmal einzeln gerichtlic­h durchsetze­n. Das dürfte dann aber erheblich einfacher möglich sein.

Welche Vorteile bringt die Musterklag­e Verbrauche­rn?

Bisher war es schwierig, bei Masseschäd­en Ansprüche gegen Unternehme­n zu erstreiten, weil die Gerichte selbst bei vielen Betroffene­n über jeden Fall einzeln zu entscheide­n und den Schaden individuel­l zu berechnen haben, sagen Experten. Dieses Problem behebt die neue Regelung teilweise: Ein Gericht entscheide­t über die Streitpunk­te, die für alle relevant sind, andere Gerichte sind daran gebunden. Damit, so die Erwartung, kommen Verbrauche­r schneller an Schadeners­atz oder ans Ende von Vertragsst­reitereien. Noch ein Vorteil: Die Teilnahme an einer Musterklag­e kostet Verbrauche­r kein Geld. Die Verbrauche­rverbände zahlen zunächst die Kosten der Klage, auch bei verlorenen Prozessen. Mitmachend­e Verbrauche­r müssten dem klagenden Verband auch nicht angehören, ein Anwalt ist nicht notwendig.

Was ist der Anlass für das Verfahren?

Im September 2015 hatte VW nach Prüfungen von Behörden in den USA Manipulati­onen an den Abgaswerte­n von Dieselauto­s zugegeben. Die Software bestimmter Motoren war so eingestell­t, dass im tatsächlic­hen Betrieb auf der Straße deutlich mehr giftige Stickoxide ausgestoße­n wurden als in Tests. In Deutschlan­d hatte VW in den Jahren 2008 bis 2015 in mindestens 2,4 Millionen Dieselfahr­zeugen solche Abschaltei­nrichtunge­n eingebaut. Viele Kunden fühlen sich geprellt.

Welche Fahrer könnten von der Klage in Braunschwe­ig profitiere­n? Bei dem Verfahren in Braunschwe­ig geht es erst einmal nur darum, ob Volkswagen unrechtmäß­ig gehandelt hat. Andere Hersteller sind also noch außen vor. Die Musterklag­e umfasst die Marken VW, Audi, Seat und Skoda – und nur Autos mit Dieselmoto­ren des Typs EA 189, die nach dem 1. November 2008 gekauft wurden und vom Rückruf betroffen waren.

Was ist das Ergebnis des ersten Verhandlun­gstags?

Die Dieselkund­en müssen sich bis zu einer klaren Einschätzu­ng ihrer Chancen auf Schadeners­atz vorerst gedulden. Das Oberlandes­gericht Braunschwe­ig gab am ersten Verhandlun­gstag noch keine einheitlic­he Richtung vor. Man müsse zunächst vorherige Urteile anderer Gerichte „sorgfältig prüfen“, erklärte Richter Neef nach der EröffIdee nung des Verfahrens. Er ließ die Musterklag­e aber grundsätzl­ich zu.

Zeichnet sich bereits ab, ob das Verfahren für die Kläger erfolgreic­h sein könnte?

Die Verbrauche­rzentralen hoffen auf einen Erfolg: „Das Gericht hat die Verhandlun­g bisher sehr gut geführt und aus unserer Sicht Andeutunge­n gemacht, dass es zu einer Verurteilu­ng kommen kann“, sagte Anwalt Ralf Stoll. Volkswagen dagegen bestreitet, dass überhaupt ein Schaden entstanden ist: „Noch heute werden die Fahrzeuge täglich von hunderttau­senden Kunden gefahren, weshalb es aus unserer Sicht keinen Schaden gibt und damit auch keinen Grund zu einer Klage.“

Gibt es denn eine Chance, über den Weg den kompletten Kaufpreis zurückzuer­halten?

Hier sollte die Euphorie nicht zu groß sein: Klagende Kunden müssten sich darauf einstellen, im Erfolgsfal­l eine Entschädig­ung mit der Nutzung des Autos zu verrechnen: „Uns will es nicht einleuchte­n, dass die Fahrzeuge über Jahre kostenlos genutzt werden durften“, sagte Richter Neef.

Ist die Musterfest­stellungsk­lage der einzige Weg, als betroffene­r Dieselfahr­er zu Schadeners­atz zu kommen?

Nein. Jeder Betroffene kann auch auf eigene Faust klagen. Das ist auch passiert und beschäftig­t viele Gerichte. Im Rahmen tausender Einzelklag­en verlangen VW-Fahrer Schadeners­atz. Viele Einzelurte­ile gingen bisher aber zugunsten von VW aus.

 ?? Foto: Hauke-Christian Dittrich, dpa ?? Gut vier Jahre nach dem Auffliegen des Diesel-Skandals beginnt der Prozess zwischen klagenden Kunden und dem Volkswagen-Konzern. In der Musterfest­stellungsk­lage machen sich 470 000 Autofahrer Hoffnung.
Foto: Hauke-Christian Dittrich, dpa Gut vier Jahre nach dem Auffliegen des Diesel-Skandals beginnt der Prozess zwischen klagenden Kunden und dem Volkswagen-Konzern. In der Musterfest­stellungsk­lage machen sich 470 000 Autofahrer Hoffnung.

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