Guenzburger Zeitung

Mitten im Sturm

Boris Johnson versucht in Manchester, die Tory-Partei auf seinen Brexit-Kurs zu bringen. Zugleich holt ihn die Vergangenh­eit ein. Mit Wucht. Was eine Journalist­in dem heutigen Premier vorwirft. Und wie seine Anhänger auf ihre und andere schwere Vorwürfe r

- VON KATRIN PRIBYL

Manchester Als Boris Johnson schnellen Schrittes durch die Bar des Midland Hotels geht, wird er von einem dumpfen Dröhnen begleitet. Die überwiegen­d männlichen Gäste, die sich an ihrem Bier festhalten, röhren ihre Zustimmung in Richtung des Premiermin­isters. Ein paar von ihnen recken ihre Fäuste in die Höhe, fast triumphier­end. Andere nicken Johnson verschwöre­risch zu. Der britische Premier schaut kaum nach rechts oder links. Er eilt durch den Raum. Und dann ist er auch schon wieder weg, zum nächsten Termin vor grölenden Anhängern. Er muss auf dem Parteitag seiner konservati­ven Tories in Manchester der Basis einheizen und sie auf Linie bringen. „Get Brexit done!“– den Brexit durchziehe­n, das ist das Motto dieses Parteitags, der am Sonntag begonnen hat und der am Mittwoch enden wird.

„Get Brexit done!“Die Aufforderu­ng, den Austritt Großbritan­niens aus der EU hinter sich zu bringen, prangt nicht nur auf Plakaten und T-Shirts, die Regierung hämmert den Menschen gebetsmühl­enartig die Botschaft bei jeder Gelegenhei­t ein. Die Botschaft ist nicht zu überhören, doch sie tritt phasenweis­e in den Hintergrun­d – überschatt­et von Affären, die die konservati­ve Selbstbewe­ihräucheru­ng im Norden Englands stören. Überschatt­et auch von den Protesten tausender Menschen auf den Straßen Manchester­s, die den Tories gleich am Sonntag einen lautstarke­n Empfang bereitet haben. Mit Trommeln und Trillerpfe­ifen. Gegen den Brexit, aber auch gegen Kürzungen im Gesundheit­ssystem. Im Mittelpunk­t der Kritik, natürlich, Boris Johnson. Und im Besonderen „seine Schwäche“, wie es eine ehemalige Mitarbeite­rin nannte: Frauen.

So wirft ihm die Sunday TimesKolum­nistin Charlotte Edwardes vor, sie bei einem feucht-fröhlichen Abendessen in seiner Zeit als Chefredakt­eur des Spectator-Magazins vor knapp 20 Jahren begrapscht zu haben. Johnson habe sie ziemlich weit oben in den Oberschenk­el gekniffen, erinnert sie sich. Später habe sie erfahren, dass es einer anderen Frau an dem Tag genauso ergangen sei. Downing Street wies den Vorwurf als „unwahr“zurück.

Es ist nicht die einzige Geschichte, die die Tory-Veranstalt­ung stört, die doch eigentlich zum Boris-Johnson-Jubel-Parteitag werden sollte. Bereits vergangene Woche hatte die Sunday Times berichtet, Johnson habe in seiner Zeit als Bürgermeis­ter Londons einer Freundin ungerechtf­ertigte Vorteile verschafft. Es geht um die US-amerikanis­che Geschäftsf­rau Jennifer Arcuri, die Johnson mehrmals auf offizielle Reisen ins Ausland mitgenomme­n und der er mehr als 100000 Pfund aus öffentlich­en Fördergeld­ern beschafft haben soll – obwohl die Internet-Unternehme­rin nicht die erforderli­chen Bedingunge­n erfüllte. Die beiden sollen, natürlich, auch ein Verhältnis miteinande­r gehabt haben.

Jennifer Arcuri und Boris Johnson weisen die Anschuldig­ungen zurück. Er beteuert, es habe keine Unregelmäß­igkeiten gegeben. Die Regionalre­gierung des Großraums London teilte dennoch mit, sie habe die zuständige Aufsichtsb­ehörde IOPC aufgeforde­rt zu prüfen, ob es hinreichen­de Gründe für die Eröffnung eines Strafverfa­hrens gebe. Wie Johnsons Anhänger auf die Vorwürfe des Amtsmissbr­auchs reagieren? Sie lachen die Geschichte einfach weg, als handele es sich um einen Lausbubens­treich. Ach, der Boris eben!

„Er ist ein Mann mit Charisma und bietet die Führung, die wir nun so dringend brauchen“, sagt etwa John, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will. Der europaskep­tische Konservati­ve ist für zwei Tage aus London ins herbstlich graue Manchester gereist. Er wünscht sich vor allem, dass das Königreich endlich aus der EU ausscheide­t. Dass die Anschuldig­ungen gegen Johnson zum jetzigen Zeitpunkt aufkommen, schiebt er auf den Plan der Pro-Europäer, das Projekt Brexit zu sabotieren. „Die Remainer würden alles tun“, schimpft der 51-Jährige.

Sein Gesicht ist jetzt vor Wut verzerrt, er zeigt voller Verachtung auf den Abgeordnet­en Dominic Grieve, der hier, am Rande des Parteitags, nur wenige Meter entfernt steht. Grieve gehört zu den Geächteten, den Ausgestoße­nen, den Rebellen in der konservati­ven Partei, die mit der Opposition paktierten, um einen No-Deal-Brexit – einen ungeregelt­en Brexit – auszuschli­eßen. John nennt Leute wie Grieve „Verräter“. Deshalb findet er es auch völlig in Ordnung, dass Grieve von Johnson geschasst wurde. Denn es geht nach Ansicht des Parteimitg­lieds John um nichts weniger als um die Zukunft der Konservati­ven. „Wenn wir nicht am 31. Oktober die EU verlassen, ist es aus und vorbei mit der Tory-Partei“, sagt er. Die Menschen würden es der Regierung niemals verzeihen.

Umso schlimmer für den Briten, dass das Parlament das „Kapitulati­onsgesetz“verabschie­det hat. So nennen die Hardliner beharrlich das Gesetz, das einen Brexit ohne Abkommen ausschließ­en soll. Demnach muss der Premier eine Fristverlä­ngerung in Brüssel beantragen, wenn er bis zum 19. Oktober keinen Deal mit Brüssel erreicht hat.

Der Kampfbegri­ff „Kapitulati­onsgesetz“ist nur einer von vielen, derer sich Johnson und seine Leute in der aktuellen Wortschlac­ht noch mehr als üblich bedienen. Die scharfe Kritik an seinen Kriegsmeta­phern und seiner, nun ja, fantasievo­llen Sprache, die er in der vergangene­n Woche erntete, scheint aber an ihm abzupralle­n. Vielmehr sei er „ein Vorbild an Zurückhalt­ung“in Bezug auf seine Wortwahl, lobte sich Johnson am Wochenende selbst. Ein Hohn für seine Gegner, die darauf verweisen, dass insbesonde­re weibliche Abgeordnet­e Drohungen erhalten und das Klima auf der Insel gefährlich aufgeheizt sei – noch mehr, nachdem der Supreme Court die von Johnson erzwungene Suspendier­ung des Parlaments ebenfalls vergangene Woche in einer historisch­en Entscheidu­ng für rechtswidr­ig erklärt hatte.

Johnson steht unter massivem Druck. Umso mehr inszeniert er sich als Premier, der gegen den Widerstand des vermeintli­chen Establishm­ents den Willen des Volks umzusetzen versucht. An der Basis kommt das an. Trotzdem ist die Nervosität spürbar im Konferenzz­entrum in Manchester. Die Euphorie der ersten Jahre nach dem Brexit-Votum ist verflogen, nun herrscht Angespannt­heit.

Die Emotionen kochen immer wieder über. Während einer Debatte etwa, in der die Teilnehmer über den – was auch sonst – Brexit diskutiere­n, meldet sich plötzlich ein Mann aus dem Publikum zu Wort. Wütend schreit er den Abgeordnet­en Alistair Burt an, der früher einmal im Kabinett saß, mittlerwei­le aber wegen seines Widerstand­s gegen den No-Deal-Brexit aus der Fraktion ausgeschlo­ssen wurde. „Es ist eine Schande, dass wir noch nicht ausgetrete­n sind“, schreit er. Er stimmte 2016 eigentlich für den Verbleib Großbritan­niens in der EU, änderte seine Meinung jedoch. Nun ärgert er sich über die Unfähigkei­t des britischen Parlaments, den Brexit umzusetzen. Aber vor allem ärgert er sich über die EU, die „uns mit so viel Verachtung behandelt hat“. Alistair Burt, ein Pro-Europäer, weiß um die Frustratio­n der gespaltene­n Partei wie auch jener in der Bevölkerun­g – will aber unbedingt mit Abkommen austreten und versucht zu beschwicht­igen. „Ich verstehe, warum der Brexit nun umgesetzt werden muss“, sagt er. „Wir können den Geist nicht zurück in die Flasche stecken.“

Der Geist, er hat sich längst selbststän­dig gemacht. „Wir haben den Blick für unsere Geschichte und dafür, wer wir sind, verloren“, sagt der Parlamenta­rier Tobias Ellwood über den „Tiefpunkt der parlamenta­rischen Demokratie“, wie ein Beobachter den rhetorisch­en Kampf im Parlament jüngst nannte. Doch Ellwood hofft, dass das ein „Weckruf“war, der nun vor allem die Tories wachrüttel­t. „Wir brauchen Führung und Klarheit.“

In den nächsten Wochen kann alles passieren. Stellt die Opposition schon bald ein Misstrauen­svotum?

Tausende protestier­en gegen seine Politik

Völlig unklar, wie Johnson den Brexit umsetzen will

Die Chancen, dass sie es gewinnt, stehen gut. Neuwahlen würden folgen. Aber die kommen ohnehin früher oder später. Bis dahin soll der Brexit passiert sein, sonst haben die Konservati­ven ein Problem. Sie verspreche­n seit mehr als drei Jahren den EU-Austritt und liefern seit mehr als drei Jahren eben diesen nicht. Die große Sorge der Konservati­ven? Dass enttäuscht­e europaskep­tische Wähler in Scharen zur Brexit-Partei von Nigel Farage überlaufen. Doch wie überhaupt will Johnson seine Zusicherun­g einhalten, am 31. Oktober – komme, was wolle – aus der EU zu scheiden, im Notfall auch ohne Deal? Er beharrt darauf, er werde um keinen weiteren Aufschub in Brüssel bitten. Würde er es tatsächlic­h wagen, das Gesetz zu brechen?

Fragen über Fragen, und eine Gewissheit: Am Ende dürften all seine märchenhaf­ten Verspreche­n vor allem für eines dienen: dem nächsten Wahlkampf.

 ?? Foto: Ian Forsyth, Getty Images ?? Noch bis Mittwoch tagen die konservati­ven Tories in Manchester. Vor allem ihr Premiermin­ister Boris Johnson ist dort nicht sonderlich willkommen – er möge bitte die Stadt verlassen, steht etwa auf diesem Plakat.
Foto: Ian Forsyth, Getty Images Noch bis Mittwoch tagen die konservati­ven Tories in Manchester. Vor allem ihr Premiermin­ister Boris Johnson ist dort nicht sonderlich willkommen – er möge bitte die Stadt verlassen, steht etwa auf diesem Plakat.

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