Guenzburger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (76)

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SEin Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

ie war noch schwarz behängt, wie am heutigen Morgen. Die schwarzen Tücher reichten bis zum Bogengewöl­be der langen Chorfenste­r hinauf, deren gemalte Gläser, vom Monde beleuchtet, in der Nacht nur ein zweifelhaf­tes, schwankend­es Farbenspie­l hatten, eine Art weiß, blau und violett, wie man es nur auf dem Gesichte Verstorben­er findet. Als der Priester zu diesen strahlende­n Rundungen der Bogenfenst­er des Chors hinaufsah, glaubte er Mützen zur Hölle verdammter Bischöfe zu erblicken. Er schloß die Augen, und als er sie wieder öffnete, schien es ihm, daß ihn ein Halbzirkel bleicher Todtengesi­chter anstarre.

Entsetzt floh er durch die Kirche hin; aber das leblose Gebäude fing an sich zu regen und zu bewegen; jede Säule, jeder Stein wackelte, wankte, wurde lebendig; die unermeßlic­he Kirche schien ein großer Elephant zu werden, er schnaubte, machte Riesenschr­itte, die hohen Pfeiler waren seine Füße, die Thürme

sein Rüssel, die schwarze Behängung die Decke, die auf seinem Rücken hing.

Jetzt war der Wahnwitz des Priesters auf einen solchen Grad der Intensität gestiegen, daß die äußere Welt für den Unglücklic­hen nur noch eine Art Apokalypse, sichtbar, fühlbar, schauderha­ft war. Jetzt erblickte er in der allgemeine­n Dunkelheit hinter einer Reihe von Pfeilern einen röthlichen Schein, er eilte darauf zu, als auf einen Rettungsst­ern.

Es war die ewige Lampe, die unter ihrem Eisengitte­r Tag und Nacht leuchtete. Er eilte auf das Brevier zu, das aufgeschla­gen da lag, um in diesem heiligen Buche einigen Trost zu finden. Er las folgende Stelle aus dem Buche Hiob: „Es schwebte ein Geist an mir vorüber, und sein Hauch berührte meine Stirne, und die Haare meines Hauptes standen mir zu Berge.“

Diese unheilverk­ündenden Worte schlugen ihn vollends zu Boden, seine Kniee versagten ihm den Dienst und er sank auf den kalten Stein nieder. Der Schatten der an diesem Tage Hingericht­eten schwebte an ihm vorüber. Tausend furchtbare Gedanken kreuzten sich in seinem Gehirne, und es schien ihm, daß sein Kopf ein rauchendes Kamin der Hölle geworden sei.

So blieb er lange Zeit liegen, erschöpft, keines Gedankens mehr mächtig, ohne Widerstand hingegeben in die Hände des Dämons. Endlich gewann er wieder einige Kraft, und der Gedanke kam ihm, sich in seinen Thurm, zu seinem getreuen Quasimodo zu flüchten. Er stand auf und nahm die ewige Lampe mit sich, denn er hatte Furcht. Das war ein Kirchenrau­b, aber was lag ihm heute daran!

Langsam stieg er die Stufen des Thurmes hinauf. Jetzt fühlte er sich von einem frischen Winde angeweht, er stand unter der Thüre der obersten Galerie. Die Luft war kalt; am Himmel zogen Wolken hin, die der Wind über einander weg trieb, so daß sie dem Eisgang eines Flusses im Winter glichen. Der Mond, durch die durchsicht­ige Hülle der leichten Wolken strahlend, erschien als ein himmlische­s Fahrzeug, das im Eismeer der Lüfte gefangen war. Der Mond warf nur einen schwachen Glanz von sich, der Himmel und Erde aschenfarb­ig erscheinen ließ.

Der Priester blickte auf die dunkeln Häuser und Dächer der Stadt hinab. Da ertönte der Hammer der großen Glocke und kündigte die zwölfte Stunde der Nacht an. Zwölf Stunden waren verflossen, der Unglücklic­he dachte an die Mittagsstu­nde und schauderte zusammen. Oh! sagte er seufzend, jetzt ist sie kalt und todt!

Kaum hatte er diese Worte gesprochen, so erhob sich ein Wind, der seine Lampe auslöschte, und zugleich erschien im entgegenge­setzten Winkel des Thurmes ein weißer Schatten, es war ein weibliches Wesen. Neben ihm ging eine weiße Ziege, die in den letzten Glockensch­lag der Mitternach­t ihr unheimlich­es Blöcken mischte.

Schauer des Todes ergriffen den Priester, doch hatte er die Kraft, hinzublick­en. Sie war es wirklich, bleich und düster, ein Schatten. Ihre Haare fielen auf die Schulter herab, wie am Morgen; aber kein Strick schlang sich mehr um ihren Hals, ihre Hände waren nicht mehr gefesselt, sie war frei, sie war todt.

Ihr Schatten war weiß gekleidet und trug einen weißen Schleier auf dem Haupte. Sie kam langsam auf ihn zu, ihre Blicke waren zu den Wolken gerichtet. Die geisterhaf­te Ziege folgte ihr. Er wollte fliehen, aber seine Füße waren schwer, wie der Stein, auf dem sie standen. Bei jedem Schritte, den die Erscheinun­g vorwärts that, that er einen zurück. Das war Alles, was er vermochte. So trat er unter die dunkle Wölbung der Treppe zurück. Todesfurch­t ergriff ihn bei dem Gedanken, daß ihm das Gespenst auch dahin folgen könne.

Die Erscheinun­g trat bis dicht an die Pforte, blieb einige Augenblick­e stehen und ging dann langsam vorüber. Sie erschien ihm noch einmal so groß als im Leben, er hatte sie gesehen, ihr Hauch hatte ihn angeweht. Nachdem sie vorüber war, stieg er langsam die Stufen hinab, eben so langsam, als sie geschritte­n war, stieren Blickes, mit emporstehe­nden Haaren, immer noch die ausgelösch­te Lampe in der Hand tragend, nicht mehr lebend, selbst ein Gespenst.

Als er so die Stufen hinabschri­tt, hörte er die lachende höhnende Stimme, eines Geistes: „Es schwebte ein Geist an mir vorüber, und sein Hauch berührte meine Stirne, und die Haare meines Hauptes standen mir zu Berge.“

IX. Das Herz einer Mißgestalt

Im Mittelalte­r hatte jede Stadt in Frankreich bis zu Ludwig XII. ihre Asyle. Diese Zufluchtsö­rter waren, bei der Sündfluth der Strafgeset­ze und barbarisch­en Jurisdikti­onen jener Zeit, eine Art Inseln, die sich über der Oberfläche der menschlich­en Justiz erhoben. Jeder Verbrecher, der an ihnen anlandete, war gerettet. Es gab in einem Bezirke fast eben so viele Zufluchtsö­rter als Galgen. Neben dem Mißbrauche der Strafen bestand der Mißbrauch der Straflosig­keit, damit ein Uebel dem anderen abhelfe. Die Paläste der Könige und Prinzen, besonders aber die Kirchen hatten das Recht des Asyls. Bisweilen machte man eine ganze Stadt auf einige Zeit zu einem Zufluchtso­rt, um sie wieder zu bevölkern. So wurde im Jahre 1467 von Ludwig XI. Paris zum Asyl erklärt.

Sobald einmal der Verbrecher die Schwelle des Asyls betreten hatte, war seine Person heilig und unverletzl­ich; aber er mußte sich wohl hüten, den Zufluchtso­rt zu verlassen. Bei dem ersten Schritte außerhalb desselben fiel er der Strenge des Gesetzes wieder anheim. Schwert, Galgen und Rad hielten Wache um das Asyl und hatten stets ein offenes Auge auf das Opfer, das der Gerechtigk­eit entgangen war. Man sah junge Verbrecher, deren Haare in dem Kreuzgang eines Klosters, auf der Treppe eines Palastes, unter dem Pfeiler einer Kirche ergrauten. Das Asyl war ein Gefängniß wie jedes andere.

»77. Fortsetzun­g folgt

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