Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (85)
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
Das Mittel, sprich!“sagte der Priester heftig und schüttelte ihn.
Peter Gringoire wandte sich mit Majestät in Blick und Haltung zu dem Archidiakonus: „Nicht so ungestüm, Ihr seht ja, daß ich eben combinire.“
Der Poet nahm noch einige Augenblicke eine nachdenkliche Miene an, dann klatschte er sich selbst Beifall und rief: „Bewunderungswürdig! Unfehlbar!“
„Das Mittel!“wiederholte der Archidiakonus zornig. Peter Gringoire strahlte von innerer Freude: „Kommt, ich will Euch das ganz leise anvertrauen. Es ist eine herrliche Gegenmine, die uns alle aus der Sache ziehen wird. Beim Himmel! jetzt soll mir wieder Jemand kommen und mich einen Dummkopf heißen! Daß ich nicht zu fragen vergesse,“fügte er hinzu, „ist die kleine weiße Ziege auch bei ihr?“
„Ja! Hol’ Dich der Teufel!“„Die hätten sie auch gehängt?“„Was liegt mir daran!“
„Ja, ganz gewiß hätten sie das arme Thier gehängt. Sie haben ja im vergangenen Monat eine Sau gehängt; das kommt dem Henker eben recht, er ißt dann das Fleisch. Meine niedliche Djali hängen! Armes Thierchen!“
„Verflucht seist Du!“rief der Priester. „Der Henker bist Du. Soll ich Dir Deine Idee mit der Zange aus dem Kopfe holen?“
„So hört denn, Meister!“
Mit diesen Worten beugte sich Peter Gringoire zum Ohr des Archidiakonus hinab und redete leise mit ihm, während er von Zeit zu Zeit unruhige Blicke um sich her warf, obgleich Niemand in der Straße war. Als er geendet hatte, reichte ihm der Priester die Hand und sagte kalt: „Gut! Morgen also!“
„Morgen!“wiederholte Peter Gringoire, und während der Archidiakonus von der einen Seite sich entfernte, schlug er den entgegengesetzten Weg ein und redete halblaut mit sich selbst: Da habt Ihr etwas Gewaltiges eingefädelt, Herr Peter Gringoire. Ja, man ist nicht so kleinlich, um vor einem großen Unternehmen zurückzubeben!“
XIII. Werde ins Teufels Namen ein Gauner
Als der Archidiakonus in das Kloster zurückkam, fand er an der Thüre seiner Zelle seinen Bruder, den Mühlenhans, der hier auf ihn gewartet und inzwischen zur Unterhaltung das Profil seines ältern Bruders, mit einer ungeheuren Nase begabt, mit Kohlen an die Wand gemalt hatte. Der Archidiakonus beachtete kaum seinen Bruder; er hatte an andere Dinge zu denken. Das strahlende Gesicht des jungen, Taugenichts, das so oft die düstere Physiognomie des Priesters erheitert hatte, übte jetzt keinen Einfluß mehr auf diesen Geist, der mit jedem Tage verdorbener und je mehr und mehr vom Laster befleckt wurde.
„Mein Bruder,“sagte Johannes schüchtern, „ich wollte Euch nur besuchen.“
Der Archidiakonus würdigte ihn keines Blickes und erwiederte trocken: „So! und was weiter?“
„Mein Bruder,“fuhr der kleine Heuchler fort, „Ihr habt so viele Güte für mich und ertheilt mir so gute Lehren, daß ich mich Euch immer wieder zuwende.“
„Und hernach?“
„Ach, wie sehr hattet Ihr Recht, mein guter Bruder, als Ihr zu mir spracht: „Johannes! Johannes! Cessat doctorum doctrina, discipulorum disciplina. Johann, sei verständig, Johann, werde gelehrt. Johann, bleibe nicht über Nacht aus dem Kloster ohne gegründete Ursache und ohne Urlaub des Meisters. Prügle die Picarden nicht! Noli, Johannes, verberare Picardos. Verfaule nicht als ein ungelehrter Esel , quasi asinus illiteratus, auf der Schwelle der Schule. Johann, biete willig deinen Rücken der Züchtigung des Lehrers dar; Johann, gehe in die Kapelle und bete zu der heiligen Jungfrau. Ach, welche herrliche Lehren! Das Herz hüpft mir vor Freude und vor Leid, wenn ich daran denke.“„Und hernach?“
„Mein theurer Bruder, ein strafbarer, ein ausschweifender Mensch, ein Verbrecher, ein Elender steht vor Euch! Ja, geliebter Bruder, Johannes hat Eure guten Lehren unter die Füße getreten und sie geachtet als Rauch, der aus dem Kamin steigt. Aber Gott ist gerecht, und er hat mich dafür gezüchtigt. So lange ich Geld hatte, führte ich ein tolles Leben. Oh! Wie ist doch die Ausschweifung so lockend von Ferne, so häßlich in der Nähe! Jetzt habe ich keinen Heller mehr, ich habe Alles verkauft, das Hemd auf dem Leibe, das Licht aus dem Leuchter. Die Dirnen lachen mich aus und ich trinke Wasser; die Gewissensbisse und die Gläubiger martern mich.“
„Und hernach?“sagte der Archidiakonus.
„Ach, mein theuerster Bruder, ich möchte gern ein besseres Leben beginnen. Ich stehe zerknirscht vor Euch. Ich bin ein reuiger Sünder im Beichtstuhl. Ich schlage auf meine Brust und spreche: Gott sei mir Sünder gnädig! Ich sehe jetzt ein, wie sehr Ihr Recht hattet, als Ihr wolltet, daß ich eines Tages Licentiat und Unterlehrer im Collegium von Torchi werden sollte. Ich fühle jetzt einen innern Beruf zu diesem Stande. Aber ich habe keine Tinte mehr, ich muß kaufen; ich habe kein Papier mehr, ich muß kaufen; ich habe keine Federn mehr, ich muß kaufen; ich habe keine Bücher mehr, ich muß kaufen. Zu allem diesem braucht man Geld, und mit zerknirschtem Herzen komme ich zu Euch, mein geliebter Bruder.“„Ist das Alles?“
„Ja, mein Bruder! Nur ein wenig Geld.“
„Ich habe keines.“Jetzt nahm der Student ein ernstes, entschlossenes Wesen an: „Je nun, Herr Bruder, es thut mir leid, euch berichten zu müssen, daß man mir anderwärts sehr schöne Anerbietungen und Vorschläge macht. Wollt Ihr mir kein Geld geben?“ „Nein!“
„Nun, so werde ich ein Gauner.“Der Student war der festen Meinung, daß jetzt ein ganzer Hagel guter Lehren und Ermahnungen auf sein Haupt fallen, und dann das gewünschte Geld folgen werde. Allein der Archidiakonus erwiederte kalt: „Werde ein Gauner!“
Johannes machte ihm eine tiefe Verbeugung und stieg pfeifend die Treppe hinab. Als er im Klofterhof unter der Zelle seines Bruders vorüberging, hörte er das Fenster öffnen, hob die Nase in die Luft und sah das strenge Gesicht des Archidiakonus, der ihm zurief: „Werde in’s Teufels Namen ein Gauner! Hier ist das letzte Geld, das Du von mir bekommst!“
Mit diesen Worten warf er ihm eine schwere Börse an den Kopf. Der Student hob sie auf und lief vergnügt davon, wie ein Hund, den man mit Markbeinen wirft.
Am Abend des folgenden Tages, zur Zeit da die Nachtglocke läutete, war großer Aufruhr im Königreich Kauderwelsch. Die Kneipe, worin sich die Unterthanen des Königs Clopin Trouillefou zu versammeln pflegten, war voller als gewöhnlich; man trank mehr als sonst und fluchte noch ärger. »86. Fortsetzung folgt