Sie möchte türkischen Gefangenen eine Stimme geben
Über ihre Zeit als politische Geisel des Erdogan-Regimes hat Mesale Tolu ein Buch geschrieben. In Günzburg berichtet sie über die Brutalität der Polizei und die Willkür der Justiz
Günzburg Man kann und man mag sich das nicht vorstellen. Acht Monate saß Mesale Tolu 2017 in türkischer Haft, fünfeinhalb Monate gemeinsam mit ihrem gerade einmal zweijährigen Sohn Serkan. Über ihre Leidenszeit als politische Geisel des Regimes Erdogan hat die Ulmer Journalistin und Übersetzerin ein Buch mit dem Titel „Mein Sohn bleibt bei mir“geschrieben. Darin schildert sie die Brutalität der Polizei, die Willkür der Justiz, die Ängste um ihr Kind und ihren gleichfalls inhaftierten Mann. Bei einer Lesung in Günzburg betont Mesale Tolu, ihr Buch wolle auch Mut und Hoffnung machen. Und den Tausenden, die unrechtmäßig in türkischen Gefängnissen eingekerkert sind, eine Stimme geben.
Im April 2017, mitten in der Nacht, drangen maskierte und schwer bewaffnete Polizisten in Mesale Tolus Wohnung ein. „Es war ein Überfall“, sagt die junge Frau, deren Mann schon drei Wochen zuvor inhaftiert worden war. Sie wurde geschlagen, gefesselt und beschimpft, der kleine Sohn geriet in Panik. Stundenlang wurde die Wohnung durchwühlt, gefunden wurde nichts, was den Vorwurf des Landesverrats und der Unterstützung von Terroristen rechtfertigen konnte. Mesale Tolu wurde ins Istanbuler Polizeipräsidium gebracht, mit der Familie oder Anwälten durfte sie nicht telefonieren. Zurück blieb das Kind. Es wurde einem Nachbarn übergeben, den die junge Mutter nur flüchtig kannte. Erst nach langen und quälenden Tagen erfuhr Mesale Tolu, dass der Sohn inzwischen in der Obhut von Vater und Schwester war.
Es begann eine wochenlange Odyssee – voll von Verhören, Schikanen, Erniedrigungen, seelischer Folter. „Man wollte mich brechen“, erklärt Mesale Tolu bei der ebenso beeindruckenden wie bedrückenden Lesung. Im Gefängnis erfährt sie, dass es ihrem Sohn seelisch und körperlich immer schlechter geht. Sie konnte durchsetzen, dass das Kind zu ihr ins Gefängnis kam – wie viele Kinder anderer eingesperrter Frauen. Es sei rückblickend die richtige Entscheidung gewesen, den Sohn zu sich zu holen. Er sei wieder ein aufgeweckter und fröhlicher Bub, sicher und geborgen. Es waren nicht zuletzt ihre Mitgefangenen, die Mesale Tolu Halt gegeben hatten – Politikerinnen, Gewerkschafterinnen oder Journalistinnen. Tausende von Frauen säßen unter den fadenscheinigsten Begründungen im Gefängnis. Eine Journalistin bereits seit 15 Jahren. „Die Türkei unter Erdogan ist menschenverachtend“, erklärte sie. Ziel sei es, die Opposition mundtot zu machen, die Meinungsund Pressefreiheit einzuschränken.
Wie der seinerzeit ebenfalls inhaftierte Journalist Deniz Yüzel und der Menschenrechtler Peter Steudtner kam auch Mesale Tolu schließlich frei – unter letztlich mysteriösen Umständen. Ihre Freilassung sei eher eine Entführung gewesen, noch einmal durchlitt die junge Frau Todesängste. Seit zwei Jahren lebt die Familie wieder in Ulm. Im Gegensatz zu 62 Deutschen, die derzeit in der Türkei inhaftiert sind. Vorbei ist die Geschichte für Mesale Tolu trotzdem nicht. Am gestrigen Freitag war in der Türkei ein weiterer Prozesstag gegen sie angesetzt. Erschienen ist sie wohlweislich nicht. Ihr könnte Haft zwischen sechseinhalb und 20 Jahren drohen. „Das bedrückt mich seelisch sehr.“
Veranstalter der Lesung in der Reihe Lesart waren Volkshochschule, Buchhandlung Hutter und die VR-Bank. „Zusammenleben. Zusammenhalten“lautet der Titel des aktuellen Vhs-Semesters. Er passe zu Mesale Tolu, wie Vhs-Leiterin Petra Demmel bei der Begrüßung der zahlreichen Besucher betonte.
Nur dank der Solidarität der vielen Menschen in Ulm und andernorts in Deutschland sei sie freigekommen, versichert Mesale Tolu. Zusammenhalt wirkt – auch das ist eine Botschaft des Buches.