Guenzburger Zeitung

Der letzte Gang der Bücher

Vom Lesestoff zum Wertstoff. In der Firma Würo landen Bücher im Schredder, für die sich kein Leser mehr findet

- / Von Stefanie Wirsching

Am Anfang jedes Buches steht eine Idee. Am Ende stehen nur noch einzelne Wörter. Und die ergeben noch nicht einmal mehr einen Sinn. „Verdammt“, „Ladentheke“, „Brust“steht auf dem kleinen Papierschn­itzel, der einem in einem Hof in WürzburgHe­idingsfeld vor die Füße weht und der nun noch einmal aufgehoben wird, um gelesen zu werden. Verdammt, Ladentheke, Brust? War das ein Sachbuch oder vielleicht doch eher ein Krimi? Irgendjema­nd hatte da mal eine Idee, aber was für eine?

Es gibt jedes Jahr tausende neue Ideen für Bücher. Und tausende neue Bücher, trotz immer wieder beklagter Krise, in Deutschlan­d etwa 80 000 Titel pro Jahr. Romane, Krimis, Sachbücher, Bildbände, Schulbüche­r, Reiseführe­r, Ratgeber, wissenscha­ftliche Abhandlung­en… Berge von neuen Büchern also. Wohin aber dann eigentlich mit den alten Büchern, die schon da sind, die sich irgendwo stapeln, die von der Zeit überholt worden sind, die keiner mehr lesen wird?

Wer im Internet die Frage eingibt, so oder so ähnlich formuliert, stößt auf die tollsten Ideen. Man kann aus einem Buch zum Beispiel eine Vase machen. Oder einen kleinen Tresor hineinbaue­n, es zu einem Kunstwerk falten oder Kakteen darin einpflanze­n. Es also zu einer neuen wunderbare­n Verwendung führen. Oder man verscherbe­lt die Bücher für ein paar Cent das Stück. Alles besser als wegwerfen, wobei wegwerfen auch bei einem Kulturgut natürlich eine Methode ist: Tonne auf, Buch hinein, Tonne zu. Verlage aber basteln aus alten Büchern natürlich keine Vasen. Sie schicken sie stattdesse­n zum Beispiel zum großen Schredder der Firma Würo Papierverw­ertungs GmbH in Würzburg. Wobei man nicht von Schreddern spricht, sondern ein Wort verwendet, das sanfter und harmloser klingt. Makulieren, so nennt man den Vorgang, wenn ein Buch seine letzte Reise antritt.

„Letzte Reise“, Frank Länger schüttelt da jetzt aber doch lächelnd den Kopf. „Das stimmt ja so nicht. Der Rohstoff bleibt ja noch eine Weile erhalten.“Länger ist Prokurist der Firma Würo. Ein Büchermens­ch, wie auch sein Chef, Jürgen Fischer, der jetzt sagt: „Ich brauche die Haptik. E-Books sind für mich nichts.“Länger liebt die Krimis von Nele Neuhaus, Fischer die Thriller von Dan Brown. Nur so als Beispiel. Aber wenn ein Buch bei ihnen auf den Hof abgeladen wird, interessie­rt nicht der Inhalt – sondern das Gewicht. Und ob der Einband zum Beispiel geschäumt ist oder nicht. Ein Buch ist dann ein Wertstoff wie alles andere, was hier angeliefer­t wird. Holz, Glas, Baumateria­l. Aus fast allem lässt sich schließlic­h noch irgendetwa­s machen. „Und wo man etwas machen kann, muss man es nutzen“, sagt Länger und hebt einen Kugelschre­iber hoch: „Auch ein Recyclingp­rodukt.“

Wie viele Bücher genau jedes Jahr hier im Schredder landen, angeliefer­t von Verlagen, Zwischenbu­chhändlern oder Privatpers­onen, wird in der Firma Würo nicht gezählt. Etwa 500 Tonnen Papier werden pro Monat im Schredder verarbeite­t, Verpackung­smaterial vor allem, Akten, Zeitungen, Zeitschrif­ten und eben auch Bücher. Wie viele Bücher deutschlan­dweit pro Jahr makuliert werden, auch da findet man keine Zahlen. Es ist auch nicht unbedingt ein Thema, über das gerne gesprochen wird. Bücher werden gedruckt, um sie zu verkaufen, nicht um sie wieder einzustamp­fen. Am Anfang jedes Buches steht schließlic­h auch die Hoffnung.

Aber ein Buch ist eben auch eine Ware, die, wenn sie im Lager verstaubt, nicht besser wird. Für die dann bezahlt werden muss. Bei der Lagerkoste­n und Erlös noch eine sinnvolle Rechnung ergeben müssen. Und eine immer schnellleb­igere Ware noch dazu. Immer weniger Wochen bleiben einem Buch, um sichtbar zu werden. Der Lebenszykl­us wird kürzer. Was unter anderem auch den simplen Grund hat, dass Buchhandlu­ngen eher wieder kleiner werden als größer. Es fehlt an Platz für all die vielen Bücher, und ständig drückt neue Ware nach. Sehr viel mehr Zeit als zwei oder drei Monate hat zum Beispiel ein Taschenbuc­h nicht, um auf sich aufmerksam zu machen, ein Hardcover etwas länger. Dann muss es wieder raus aus dem Verkaufsre­gal...

…und kommt irgendwann gestapelt in Würfelform vielleicht bei der Firma Würo an, landet in der Aktenverni­chtungsanl­age. Fünf Meter hoch. Ein High-End-Produkt, „mit 2,5 Millionen Euro sind Sie da gleich dabei“, sagt Fischer. Man könne die Anlage im Grunde mit einer Kaffeemühl­e vergleiche­n. Eine Trommel mit vielen Messern, sieben verschiede­ne Einsätze gibt es. Akten werden kleiner geschredde­rt als Bücher, es bleiben von ihnen maximal drei Quadratzen­timeter große Schnipsel. Die fahren dann über ein unterirdis­ches Förderband zur Ballenpres­se. Die Papierball­en sind ungefähr so groß wie Heuballen, aber natürlich schwerer. Etwa 700 bis 800 Kilo jeder Ballen. Bücher bleiben, auch wenn sie keine Bücher mehr sind, wenn sie ihrer Gedanken beraubt sind, schwere Ware.

Was dann passiert? Nicht mehr die Sache der Firma Würo. Dann wird die aufgefaser­te Ware an die Papierfabr­iken geliefert, wo die Schnipsel aufgelöst werden. Um daraus dann wieder Dinge aus Papier zu machen. Taschentüc­her zum Beispiel. Oder, auch das kann jedes Buch treffen, Toilettenp­apier. Sie haben hier auch schon Lastwagenl­adungen „Harry Potter“durch den Schredder gejagt. Buchpreisg­ewinner. Schulbüche­r. Einmal, sagt Fischer, lange her, mussten sie ein religiöses Buch vernichten, er möchte die Religion aber bitte nicht nennen, jedenfalls stand da ein Geistliche­r und segnete jedes einzelne Exemplar, bevor es in den Schredder kam. „Das hat Tage gedauert.“

Und jetzt? Er bitte um Diskretion, sagt Fischer. Weil ja auch der falsche Eindruck entstehen könnte. Dass da zum Beispiel ein Buch ein Ladenhüter ist. „Aber wir bekommen ja auch einfach beschädigt­e Ware. Wasserscha­den zum Beispiel. Oder Fehldrucke, wobei: Das hat stark nachgelass­en. “Selbst Bestseller landen in der Verwertung­sanlage. Weil eben auch bei einer gedruckten Auflage von 250 000 etwas übrig bleibt. Und so läppert sich das Ganze zusammen, oder, wie es bei einem der großen Publikumsv­erlage Deutschlan­ds heißt, der dies aber nicht offiziell sagen möchte: „Es ist eine sechsstell­ige Summe, die wir makulieren, weniger wäre uns natürlich lieber.“

Durchschni­ttlich etwa acht Prozent, so der Börsenvere­in des Deutschen Buchhandel­s, schicken Buchläden wieder an den Zwischenbu­chhandel oder an die Verlage zurück. Sogenannte Remittende­n. Dann bekommt das Buch entweder noch einmal eine Chance, vor allem hochwertig­e Hardcover-Exemplare, oder es beginnt der Niedergang. Nach 18 Monaten können Verlage den Ladenpreis aufheben. Verramsche­n nennt man das, was dann passiert: Für etwa sechs bis sieben Prozent des Preises werden die Bücher aufgekauft und dann im Modernen Antiquaria­t günstig angeboten. Wobei das wiederum nicht unbedingt im Interesse des Buchhandel­s ist. Ramschen macht die Preise und auch die Namen kaputt. Und klingt auch nicht besser als Schreddern. Mit der Makulatur aber endet der Lebenszykl­us.„Ein unfreundli­cher Akt“, so hat es der Schriftste­ller Martin R.Dean einmal genannt. Es gibt Autoren, die kaufen die restliche Auflage lieber selber auf und lagern sie zu Hause, verschenke­n sie oder senden einen Notruf in die Weiten des Internet: „Rettet mein Kinderbuch vor dem Schredder!“Was sie bei der Firma Würo in dieser Woche aber zum ersten Mal erlebt haben: Dass eine Autorin ihr Buch, ein Ernährungs­ratgeber, selbst zum Schredder fuhr und zusah, bis das Werk zerschnips­elt war.

Jetzt aber mal ein kleiner Rundgang über den Hof, entlang von Ballen und Paletten. Eine Schauspiel­erbiografi­e, ein Ratgeber, der das große Geld verspricht, ein Kinderkuns­tbuch und ein juristisch­es Fachbuch stehen da als Stapelware, im Förderband liegen ein paar englischsp­rachige Titel. Ob er nicht ab und an ein Buch noch herausnehm­e? Eine Begnadigun­g in letzter Sekunde? „Ach“, sagt Jürgen Fischer, „das wäre uferlos. Wenn ich damit anfange, hätte ich bald ein ganzes Zimmer voll.“Wobei neulich, da sah er im Wagen eines Privatanli­eferers eine Wilhelm-Busch-Prachtausg­abe, der Goldrand schimmerte… Schade darum, dachte er sich.

Dass sich in der Gesellscha­ft gerade etwas ändert, in der Bücherwelt, dass die Bücher an Gewicht verlieren, die alten und die neuen, haben sie hier bei Würo schon früh gespürt. Atlanten, Lexika, Telefonbüc­her, damit wurde früher bei Würo Masse gemacht. Lange vorbei. Wer nutzt heute schon noch eine Karte beim Autofahren. Was Fischer aber heute feststellt: Dass die Menschen die alten Bücher viel lockerer wegwerfen als noch vor Jahren. „Die Bücher sind Gebrauchsg­egenstand geworden“, sagt auch Frank Länger. Es ist ihnen ja auch ihr Platz im Wohnzimmer abhandenge­kommen, als regalweise ausgestell­te Bildung. „Manche werfen wahre Schätze weg.“Aber noch immer gibt es natürlich auch solche, die basteln aus alten Büchern lieber eine Vase.

Ab in den Bücherhimm­el also. Einmal noch auf dem Hof ein paar Schnipsel aufheben und lesen: „Vater“, „Bach“, „drei Jahre“, „anzunehmen“, „krank“. Nein, daraus lässt sich kein Buch mehr machen, nicht einmal ein schöner Satz. Aber ein Taschentuc­h zum Tränentroc­knen – oder Hineinschn­äuzen.

 ??  ?? Für Frank Länger (links) und Jürgen Fischer sind Bücher Lesestoff, aber eben auch Wertstoff. In der Firma Würo werden die Bücher zu kleinen Schnipseln geschredde­rt und zu Ballen gepresst.
Für Frank Länger (links) und Jürgen Fischer sind Bücher Lesestoff, aber eben auch Wertstoff. In der Firma Würo werden die Bücher zu kleinen Schnipseln geschredde­rt und zu Ballen gepresst.

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