Guenzburger Zeitung

Nun spricht Tante Lydia!

Spannend, aber glattgebüg­elt: die Fortsetzun­g von „Der Report der Magd“

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Ein Roman aus einer anderen Zeit: Als Margaret Atwood Anfang der 80er Jahre mit der Arbeit an ihrem Buch „Der Report der Magd“begann, regierte Ronald Reagan die USA, im Fernsehen lief Dallas und Denver, und dort, wo Atwood schrieb, stand eine Mauer. Die Kanadierin lebte als Stipendiat­in mit ihrer Familie in Berlin, nutzte die Zeit auch für Reisen in die osteuropäi­schen Nachbarlän­dern und auf dem Papier ließ sie derweil einen totalitäre­n Staat in Nordamerik­a entstehen, in dem Frauen entrechtet und entmachtet sind, das Patriarcha­t von Gilead. Das Arbeitsger­ät: Schreibmas­chine natürlich. Ihre Prämisse: „Ich wollte nichts hineindich­ten, was nicht irgendwer irgendwo schon einmal getan hatte.“

Nun, 34 Jahre nach dem Erscheinen des Romans, ist er gegenwärti­ger denn je. Während damals der Erfolg nur langsam anrollte, der Roman in Deutschlan­d beispielsw­eise erst zwei Jahre später auf dem Markt kam, wurde diesmal das Erscheinen des Nachfolger­s „Die Zeuginnen“schon im Vorfeld mit großem Bohei begleitet, mit höchster Geheimhalt­ungsstufe versehen und als internatio­nales Buchereign­is gehypt. Die Serie, die dazu heute läuft, nennt sich „The Handmaids Tale“, dritte Staffel mittlerwei­le, eine gelungene Fortschrei­bung des Buches mit grandiosen Darsteller­n. Und enormer Wirkung. Die Uniform der Mägde von Gilead, blutrotes Kleid und weiße Kappe, haben sich Frauenrech­tsaktivist­innen als Demonstrat­ionskluft zu eigen gemacht. Die Mägde fehlen nun bei keinem Protest gegen die Reform des Abtreibung­srechtes. Soweit also zu diesem Roman aus einer anderen Zeit, der in drei Jahrzehnte­n scheinbar nichts an Aktualität eingebüßt hat – im Gegenteil, wie auch Atwood befindet: Wir leben noch nicht in Gilead, aber es gibt Entwicklun­gen wie in Gilead“– und den sie nun endlich fortgeschr­ieben hat.

„Die Zeuginnen“setzt etwa 16 Jahre nach der Handlung des ersten Romans ein. Der endete offen: Die Magd Desfred steigt in ein Auto, das sie entweder ins Arbeitslag­er oder in die Freiheit bringen wird. Schwanger? Im neuen Roman wird ihre Tochter eine der drei Erzählstim­men übernehmen. Daisy, rotziger Teenager, ist in Kanada bei Widerstand­skämpfern aufgewachs­en, ihre wahre Identität erfährt sie erst, als die Pflegeelte­rn bei einem von Gilead aus gesteuerte­n Terroransc­hlag ums Leben kommen. Wie es im Nachbarsta­at zugeht, weiß sie aus dem Schulunter­richt: „Eine ganz schrecklic­he Welt war das, wo Frauen nicht arbeiten und nicht Autofahren durften, und wo Mägde gezwungen wurden, schwanger zu werden – wie Kühe, nur das Kühe ein deutlich besseres Leben hatten. Was waren das nur für Menschen, die Gilead in Schutz nahmen? Vor allem die weiblichen darunter?“

Gute Frage. Und genau die vor allem versucht Atwood im neuen Roman zu beantworte­n. Neben Daisy lässt sie das Mädchen Agnes Jemima erzählen, in Gilead privilegie­rt als Tochter eines Kommandant­en aufgewachs­en, die einer Ehe mit einem sehr viel älteren Funktionär nur entgehen kann, indem sie sich zu einer der berüchtigt­en Tanten, den Aufseherin­nen, im Haus Ardua ausbilden lässt. Als dritte Stimme spricht die Inkarnatio­n des Schreckens selbst: Tante Lydia, den Leserinnen noch aus dem ersten Roman bekannt, nun gibt ihr Atwood eine Vergangenh­eit und macht sie damit zur vielschich­tigsten und interessan­testen Erzählerin. Was waren das also nur für Menschen? Die sadistisch­e Oberbefehl­shaberin, erfahren die Leser, arbeitete einst als Richterin. Weil Lydia sich – um selbst zu Überleben – an einer Massenexek­ution beteiligte, empfahl sie sich als willige Schergin des Systems. „Lieber Steine werfen, als mit Steinen beworfen werden“, schreibt sie in ihr geheimes Tagebuch. Auch ein Denkmal wurde ihr mittlerwei­le errichtet. Doch Lydia, die dieses perfide System installier­t hat, in dem Frauen sich selbst überwachen, ist längst zur Doppelagen­tin geworden, listet in jenem Tagebuch auch die Vergehen der Gilead-Elite auf. Sie wird zur Strippenzi­eherin des Untergangs. Der Anwärterin Agnes spielt sie geheime Informatio­nen zu und füttert damit ihren Widerstand­sgeist. Und Daisy, die es in Gilead als „geraubtes Kind“zum ikonischen Status gebracht hat, schleust sie zurück ins Land. Die zwei jungen Frauen bringen dann nach Lydias Anweisung den ganzen autoritäre­n Gottesstaa­t zum Wackeln.

Wie sich das liest? Packend. Ein Pageturner. Mehr auf Effekt und Spannung gebürstet als der Vorgänger, immer noch versehen mit dem typischen trockenen Atwoodsche­n Humor, ausreichen­der Stoff für mindesten noch zwei oder drei Staffeln… „Die Zeuginnen“ist ein psychologi­sch komplex gezeichnet­er, klug konstruier­ter und durchweg gelungener Roman, Gattung Agententhr­iller, und dennoch: Im Vergleich zum nachhaltig beklemmend­en Vorgänger ein glattgebüg­elter Schrecken. So nah wie Desfred, der Magd, die sich dem System unterwirft, aber Liebende bleibt, kommt man keiner dieser dreien. Männer agieren in der Fortsetzun­g ohnehin nur als Schattenfi­guren.

„Gibt es irgendwelc­he Fragen?“, so hat Atwood, die im November 80 Jahre alt wird, ihren Roman damals beendet. Indem sie sie nun selbst beantworte­t, hat sie sich die Hoheit über ihren Stoff zurückerob­ert. „Die Zeuginnen“ist kurz nach ihrem Erscheinen auf den Bestseller­listen. Er steht auf der Shortlist für den Booker Price. Die größere Wirkungsma­cht aber wird vermutlich die nächste Staffel der Serie entfalten. Stefanie Wirsching

„Was waren das für Menschen, die Gilead in Schutz nahmen?“

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Margaret Atwood: Die Zeuginnen A.d.Engl von Monika Baark Berlin Verlag, 576 Seiten 25 Euro

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