Heimat der Abgehängten
Was passiert, wenn Menschen nicht mehr das Gefühl haben dazuzugehören
gekauft. Doch irgendetwas ist passiert seit ihrer Geburt, dass alle zuvor geltenden Spielregeln wenn schon nicht des gesellschaftlichen Aufstiegs, dann zumindest der Teilhabe außer Kraft gesetzt hat. Gespürt haben den Umschwung zuerst ihre Eltern. Doch mit den Folgen leben nun sie: „Staublungen und Schlagwetterexplosionen waren nicht mehr die Berufsrisiken. Man starb jetzt ganz langsam an Erniedrigungen, kleinen Knechtungen, an der ständigen Überwachung zu jeder Tageszeit oder an Asbest. Seit die Fabriken dichtgemacht hatten, waren die Arbeiter in alle Winde zerstreut. Zum Teufel mit den Massen und Kollektiven. Jetzt kam die Zeit des Individuums, der Leiharbeit, der Vereinzelung. Und all diese Beschäftigungsverhältnisse schwirrten endlos in der großen Leere der Arbeitswelt, in der sich zerteilte, flexible, durchsichtige Räume aneinanderreihten: Blasen, Boxen, Trennwände, Milchglasfolien.“
Ein paar Monate nach Erscheinen von Mathieus Buch haben in Frankreich die Gelbwesten-Proteste begonnen. Beinahe gespenstisch wirkt da eine andere Parallele. Denn so, wie im Arbeitermilieu von Hellange über allem stets eine latent fremdenfeindliche Stimmung schwebt, ist auch ein wesentlicher Teil der Gelbwesten-Bewegung im Laufe der Zeit weit nach rechtsaußen abgedriftet. So kann es dazu kommen, dass zwei ungelöste gesellschaftliche Großkonflikte sich vermengen.
Im Roman arbeitet der junge Patrick Casati problemlos mit der ersten Generation der Einwanderer aus Nordafrika zusammen, kann sogar mitleidsvoll herabblicken auf die einsamen Männer, die ohne Murren schuften, um der Familie in der Heimat zu helfen. Die zweite Generation der Einwanderer ist so alt wie Patricks Sohn und hin- und hergerissen zwischen ihrer Verachtung für ihre unterwürfigen Väter und dem Gefühl des eigenen Ausgestoßenseins in Frankreich. Für sie empfindet der ältere Patrick, der auf niemanden mehr herabschauen kann, nur noch Hass.
Mathieu konzentriert all dies im Zusammenprallen der jugendlichen Lebenswelten während vier heißer Sommer. Anthony schafft es nicht, Hellange abzustreifen und woanders neu zu beginnen. Und so entlässt Mathieu den Leser seines schmerzhaft guten Romans mit der Frage, auf die Politiker und Intellektuelle nicht nur in Frankreich derzeit händeringend eine Antwort suchen: Was tun? Matthias Zimmermann Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder
A. d. Franz. von Lena Müller und André Hansen, Hanser,
448 Seiten, 24 Euro