Unter Indianern
Antje Babendererde Jakob sucht seine Wurzeln
Als Jakob im Streit das wahre Geheimnis seiner Herkunft erfährt, ändert sich für den 18-Jährigen, der mitten im Abitur steckt, alles. Er bucht ein Flugticket in den Norden Kanadas und macht sich auf die Suche nach seinem Vater. Der lebt als Cree-Indianer irgendwo in den unzugänglichen Reservat-Gebieten der Rocky Mountains. Auf dem Weg dorthin kämpft Jakob immer noch mit der bitteren Erkenntnis, dass er nicht, wie seine Mutter ihm immer erzählt hat, das Ergebnis eines One-Night-Stands mit einem Asiaten ist. Nein, Jakob ist zu seiner eigenen Fassungslosigkeit ein HalbIndianer. Er hat sogar die ersten vier Jahre seines Lebens im Reservat Moose Factory in Kanada gelebt. Bis seine Mutter mit ihm nach einem entsetzlichen Unfall zurück nach Deutschland geflüchtet ist.
Eindrucksvoll und spannungsgeladen erzählt Antje Babendererde in „Schneetänzer“von der unerschütterlichen Kraft und Verbissenheit eines heranwachsenden jungen Mannes auf der Suche nach seiner eigenen Identität. Dass sich Jakob dabei durch Unerfahrenheit und Naivität in Lebensgefahr bringt, ist ihm gar nicht bewusst. So wird er erst in letzter Sekunde schwer verletzt und gefangen in der endlosen weißen Weite von dem Indianermädchen Kira und ihrem Großvater gerettet.
Sie flicken Jakob zusammen und versorgen ihn, bis er seine Suche wieder aufnehmen kann. Während seiner Genesung in ihrer einsamen Hütte, beim Beobachten und Miterleben ihrer Cree-Rituale, spürt Jakob, dass der Indianer in ihm doch nicht ganz so verschüttet ist, wie er geglaubt hat. Ganz langsam kehren die Erinnerungen an sein ehemaliges Leben im Reservat zurück. Diese bringen Erschütterndes ans Licht und stürzen Jakob in ein emotionales Chaos – was noch verstärkt wird durch die unerwarteten Gefühle, die er plötzlich für Kira hegt.
Ganz behutsam, schon beinahe nebenbei entsteht die zarte Romanze zwischen den beiden Teenagern, die auf den ersten Blick so vieles zu trennen scheint. Hier das unerschrockene, jagende Mädchen, das täglich loszieht, um in der Wildnis für Nahrung zu sorgen, dort der verschüchterte Junge, der von seinen Verletzungen geschwächt gerade mal das Feuer in der Hütte am Brennen erhalten kann – aber beim Gang zum Toilettenschuppen panische Angst vor den wilden Tieren hat. Zunehmend spüren die beiden, dass sie im jeweils anderen die perfekte Ergänzung zu ihrem eigenen Leben finden.
Antje Babendererde hat auf gefühlvolle und ungewöhnliche Weise die Suche eines Jugendlichen nach seiner persönlichen Identität aufgegriffen. Dass sie die Lebensweise der Cree bis ins kleinste Detail in Szene setzt, zeugt von einem ungeheuren Recherche-Aufwand. Dadurch gelingt es ihr, die innere Zerrissenheit deutlich zu machen, die die verschiedenen Kulturen in einem Menschen erzeugen. Das schafft verstörende, nachdenkliche, aber auch amüsante Momente. Wie etwa, als der konsternierte Vegetarier Jakob erkennen muss, dass Töten, Häuten und Fleisch essen zur Lebensgrundlage seines Volkes gehören.
Und die Autorin macht deutlich, dass ein Mensch ohne das Wissen um seine Wurzeln nicht vollständig ist. Er bleibt, ohne sich dessen bewusst zu sein, getrieben, unsicher und stets auf der Suche. Denn erst in dem Moment, als Jakob seine komplette Identität annimmt und sein Halb-Indianer-Sein zulässt, weiß er, welche Entscheidungen er in seinem Leben zu treffen hat.
Babendererdes „Schneetänzer“ist ein Buch, das mit Blick auf die Migrationsthematik aber nicht nur brandaktuell, sondern auch einfach schön zu lesen ist.