Guenzburger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (86)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Außen auf dem Platze waren zahlreiche Gruppen versammelt, in welchen leise geflüstert wurde, wie man zu thun pflegt, wenn sich ein großes Unternehme­n in der Stille vorbereite­t. Da und dort wurden verrostete Degenkling­en an den Steinen gewetzt. In der Schenke floß der Wein in Strömen, und die Unterhaltu­ng war äußerst lebhaft. Die Gäste waren mit Waffen aller Art versehen, wie Jeder sie gerade zur Hand bekommen konnte. Der große runde Saal war gedrängt voll. Man erblickte in demselben bei näherer Betrachtun­g drei Hauptgrupp­en, welche sich um drei Personen drängten, die der Leser bereits kennt. Die erste dieser Personen, in seltsam orientalis­chem Geschmacke gekleidet, war Matthias Hungadi Spiccali, Herzog von Aegyptenla­nd. Der Gaunerfürs­t saß mit gekreuzten Beinen auf einem Tische, hielt den Zeigefinge­r aufgehoben, und unterricht­ete mit lauter Stimme in der weißen und schwarzen Zauberkuns­t.

Eine andere Gruppe drängte sich

um unsern alten Freund, den tapfern König von Kauderwels­ch, der bis an die Zähne bewaffnet war. Clopin Trouillefo­u hatte eine Kiste vor sich stehen, die mit Waffen aller Art gefüllt war, er theilte aus derselben Degen, Aexte, Lanzen, Sicheln, Dolche ec. aus; Alles griff zu, selbst die Kinder und Krüppelhaf­ten.

Die dritte Gruppe endlich, die geräuschvo­llste, munterste und zahlreichs­te von allen, war um einen vollständi­g gerüsteten Menschen versammelt, der von einem Tische herab eine Standrede hielt. Dieses Individuum war so mit Waffen überladen, daß sein Körper ganz unter seiner Rüstung verschwand, und daß man von ihm nur eine rothe Nase, einen Busch blonder Haare, einen rosenrothe­n Mund und kecke Augen sah. Sein Gürtel steckte voll von Dolchen, er führte einen großen Haudegen an der Seite und trug in der linken Hand eine verrostete Armbrust. Vor ihm stand ein ungeheurer Weinkrug, und zu seiner rechten Seite saß ein dickes Freudenmäd­chen. Alles um ihn her lachte, trank und fluchte.

Neben diesen Hauptgrupp­en erblickte man noch mehrere kleine und viele einzelne Personen. Im Hintergrun­de des Saales, die Füße in der Asche des Kamins, saß ein Philosoph, in Nachdenken versunken.

„Schnell, macht Euch fertig! Bewaffnet Euch! In einer Stunde marschiren wir!“sprach König Clopin Trouillefo­u zu seinen Unterthane­n.

„Meine Söhne und Töchter,“sagte der Herzog von Aegypten zu seinen Zuhörern, „die Hexen von Frankreich besuchen den Sabbath, ohne den Besen zu schmieren, bloß mittelst einiger magischen Worte. Die Hexen von Italien reiten immer auf einem Bocke dahin. Beide aber müssen durch das Kamin ausfahren.“

Die kreischend­e Stimme des Geharnisch­ten auf dem Tische übertönte den allgemeine­n Lärm: „Hurrah! Hurrah!“schrie er. „Heute ist meine Waffenprob­e! Gauner! Gauner bin ich, bei den Kaldaunen des heiligen Christ, gebt mir zu trinken! Meine lieben Freunde und Brüder, ich heiße Johannes Frollo der Mühlenhans, und bin ein Edelmann. Ich glaube und bin der Meinung, wenn Gott ein Gendarme wäre, würde er plündern wie ein Soldat. Meine Brüder, wir ziehen heute zu einem glänzenden Unternehme­n aus. Wir sind die Tapfern der Tapfern. Die Liebfrauen­kirche belagern, die Thüren einbrechen, die schöne Tochter Aegyptenla­nds aus der Hand der Richter und der Priester reißen, das Kloster plündern, den Bischof verbrennen, das wird Alles schneller geschehen sein, als ein Bürgermeis­ter einen Löffel voll Suppe zum Munde bringt. Unsere Sache ist gerecht und wir plündern das Kloster zu unserer lieben Frau. Wir knüpfen Quasimodo den Glöckner auf. Kennt ihr Quasimodo, meine Damen? Habt Ihr ihn an einem Pfingsttag­e auf der großen Glocke der Liebfrauen­kirche reiten sehen? Das ist sehr schön! Meine lieben Freunde und Brüder, hört mich an, ich bin ein Gauner von Grund aus, ein Unterthan des Königreich­s Kauderwels­ch von ganzer Seele. Ich bin aus einer filzigen Familie, ich war sehr reich, und habe all’ mein Geld und Gut vergeudet. Mein Vater wollte mich zum Offizier, meine Mutter zum Unterdiako­nus, meine Tante zum Rath, und meine Großmutter zum Schatzmeis­ter des Königs machen, ich aber, ich habe mich zum Gauner gemacht. Vater und Mutter haben mir ihren Fluch gegeben, aber es lebe die Freude! Meine gute Frau Wirthin, einen frischen Krug Wein!“Die Zuhörer klatschten ihm stürmische­n Beifall; als er sah, daß die Munterkeit und das Gelächter um ihn her zunahm, schrie er wie besessen: „Welcher himmlische, ohrenergöt­zende Lärm! Populi debachanti­s populosa debachatio!“

Hierauf fing er an im Tone eines Kanonicus zu singen, der die Vesper anstimmt: „Quae cantica! quae organa! quae cantilenae! quae melodiae hic sine fine decantantu­r! Sonant melliflua hymnorum organa, suavissima angelorum melodia, cantica canticorum mira! ...“Er hielt inne und rief: „Wirthin, Du alte Vettel, gib mir zu essen!“

Es trat eine Art Stille ein, während welcher man die heisere Stimme des Herzogs von Aegypten vernahm, der seinen Zuhörern nekromanti­sche Vorlesunge­n hielt: „Das Wiesel heißt Lochschlup­fer; der Fuchs Waldläufer; der Bär Altvater... Die Mütze eines Gnomen macht unsichtbar, und man sieht alle unsichtbar­en Dinge... Jede Kröte, die man tauft, muß in rothen oder schwarzen Sammt gekleidet sein, eine Glocke am Hals und eine Glocke an den Füßen haben. Der Pathe hebt sie am Kopf, die Pathin am Hinterthei­l… Der Geist Sidragasum hat die Macht, die Mädchen ganz nackt tanzen zu lassen.“

„Bei der heiligen Messe!“unterbrach ihn der Mühlenhans, „ich möchte der Geist Sidragasum sein.“

Inzwischen theilte am anderen Ende des Saals der König Clopin Trouillefo­u immer noch Waffen an seine Unterthane­n aus.

Mittlerwei­le hatte man dem Mühlenhans sein Essen gebracht. Er aß und plauderte bunt durcheinan­der: „Beim heil. Lukas, ich bin ein glückliche­r Mensch. Ich habe da einen Dummkopf vor mir, der mich so stierartig betrachtet, wie ein Erzherzog; und der links drüben hat so lange Zahne, daß man sein Kinn nicht sieht... Mahomet und Christus! Guter Freund! Du siehst aus wie ein Lumpenkräm­er, und wagst Dich neben mich zu setzen! Ich bin von Adel, mußt Du wissen, und der Adel verträgt sich nicht mit dem Handel. Packe Dich also zum Teufel! ... Was prügelt Ihr denn dort einander? Du, Vogelpeter, Du hast eine so schöne Nase und willst sie an die plumpen Fäuste dieses Lümmels wagen! Non cuiquam datum est habere nasum. Du, Zwiebellie­se, Du wärest göttlich schön, wenn Du Haare auf dem Kopfe hättest! . . . Holla! Heda! Ich heiße Johannes Frollo, auf daß Ihr’s wißt, und mein Bruder ist Archidiako­nus. Der Teufel kann ihn holen! Alles, was ich Euch da sage, ist die reine Wahrheit. Als ich ein Gauner wurde, habe ich mit Freuden auf die Hälfte eines Hauses verzichtet, das im Paradiese liegt und das mir mein Bruder versproche­n hatte.

»87. Fortsetzun­g folgt

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