Wahlkampf mit der Queen
Königin Elizabeth verliest die Regierungserklärung von Johnson. Kritiker sprechen von einer „surrealen“Situation
London Es gehört zum Höhepunkt des politischen Kalenders im traditionsverliebten Großbritannien, wenn Königin Elizabeth II. auf dem goldverziertem Thron die ihr vorgelegte Regierungserklärung verliest. Kein Akt symbolisiert den Kontrast zwischen Tradition und Moderne besser als dieses Ritual.
Doch trotz Pomp, Kutsche, Zeremoniell, Glanz und Hermelin, trotz der Tatsache, dass die Monarchin bereits zum 65. Mal das Parlament eröffnete – diesmal war alles anders. Das Land steckt in der größten Krise der Nachkriegsgeschichte und ist nur knapp zwei Wochen vom Brexit-Termin 31. Oktober entfernt.
Als „surreal“bezeichnete deshalb ein Kommentator die Queen’s Speech, in der die Agenda für die Amtszeit von Premierminister Boris Johnson ausgebreitet wurde. Denn: Die Konservativen verfügen über keine Mehrheit im Parlament, Neuwahlen gelten als wahrscheinlich. Warum also Pläne für eine Verschärfung der Kriminalitätsbekämpfung oder für ein neues Einwanderungsgesetz ausführen? Kritiker monierten, Johnson habe die zur Neutralität verpflichtete Monarchin zur „Propaganda-Maschine“für eigene Zwecke gemacht. Ankündigungen wie die, mehr Geld ins Gesundheitssystem investieren zu wollen, seien nichts als ein „Wahlkampf-Gag“, schimpfte ein Parlamentarier der Labour-Partei. Oppositionschef Jeremy Corbyn unterstellte dem Premier, die Ansprache als „parteipolitischen Rundfunk“missbrauchen zu wollen. Nun wird zum Unmut vieler Beobachter sogar die Königin in die politischen Streitereien gezerrt.
Die Priorität der Regierung sei es stets gewesen, das Vereinigte Königreich am 31. Oktober aus der EU zu führen, trug die Queen gleich zu Beginn auf Geheiß von Downing Street vor. Johnson hält an dem Datum fest, auch wenn die Abgeordneten im September ein Gesetz verabschiedet haben, nach dem der Premier in Brüssel um eine Fristverlängerung bitten muss, sollten sich beide Seiten nicht auf einen Deal einigen. Das aber schloss der europaskeptische Hardliner wiederholt aus, verwies stets lieber darauf, dass auch er ein Abkommen und damit eine geordnete Scheidung wünsche.
Und so hat die nächste entscheidende Woche in der Brexit-Saga hat begonnen. Vielleicht ist es sogar die alles entscheidende. Noch wird hinter den Kulissen verhandelt. Nach einem Treffen zwischen Johnson und dem irischen Premier Leo Varadkar war wieder Bewegung in die Gespräche gekommen. Überraschend für viele Beobachter zeigte sich London bei der Frage, wie künftig Zollkontrollen zwischen der Republik Irland und der Provinz Nordirland vermieden werden können, kompromissbereiter als zuvor. Einigen sich Briten und EU Ende der Woche beim Gipfel in Brüssel doch noch auf einen Vertrag?
Selbst wenn es zu einem Durchbruch kommt, bleibt für Johnson die größte Hürde das Unterhaus. In dessen Sondersitzung wird es am Samstag wohl zum Showdown kommen. Der Großteil der Opposition fordert ein Referendum, bei dem die Bevölkerung zwischen dem von der Regierung vorgelegten Deal und dem Verbleib in der EU entscheiden soll. Bekommt der Premier seinen vereinbarten Deal nicht durchs Unterhaus, muss er eigentlich um einen Brexit-Aufschub bitten.
„Ein Abkommen ist möglich, es ist diesen Monat möglich oder sogar diese Woche“, sagte am Montag der irische Außenminister Simon Coveney betont optimistisch. Die Anzeichen mehren sich, dass Nordirland eine Zollpartnerschaft mit der EU eingehen könnte. In Westminster heißt es, Johnson treibe nun doch die Sorge vor neu aufkeimenden Unruhen in Nordirland bei einem ungeregelten No-Deal-Brexit um.
Verhandlungen mit EU gehen im Hintergrund weiter