Guenzburger Zeitung

Wir müssen wieder mehr Demokratie wagen

Leitartike­l Vor fast genau 50 Jahren sprach Willy Brandt Sätze für die Ewigkeit. Heute, da viele an der Demokratie zweifeln, können Politiker davon lernen – aber auch wir alle

- VON GREGOR PETER SCHMITZ gps@augsburger-allgemeine.de

Die Worte, die zu geflügelte­n werden sollten, kamen eher beiläufig daher. Willy Brandt stand vor fast genau 50 Jahren im Bundestag in Bonn, es war die erste Regierungs­erklärung eines sozialdemo­kratischen Bundeskanz­lers. Dann sprach er diese Sätze: „In den 70er Jahren werden wir aber in diesem Land nur so viel Ordnung haben, wie wir an Mitverantw­ortung ermutigen. Solche demokratis­che Ordnung braucht außerorden­tliche Geduld im Zuhören und außerorden­tliche Anstrengun­g, sich gegenseiti­g zu verstehen. Wir wollen mehr Demokratie wagen.“

„Mehr Demokratie wagen“. Wie ungeheuerl­ich diese schlichten Worte waren, das begriff damals die Opposition. Die regte sich nämlich fürchterli­ch auf über die Worte dieses „Emigranten“, den sie ohnehin lieber nicht lange regieren lassen wollte und der nur über eine hauchdünne Mehrheit verfügte. Dass diese Worte aber zum Symbol einer ganzen Ära wurden und bis heute zum politische­n Kanon gehören, liegt einmal am Mut, an dieser rhetorisch­en „Wahnsinnst­at“Brandts, wie es dessen Kanzleramt­sminister Horst Ehmke später nannte. Es lag aber vor allem daran, dass es keine leeren Worte waren. In gewisser Weise hat sich die junge Bundesrepu­blik damals neu erfunden – es gab danach mehr (demokratis­che) Mitbestimm­ung, ein Durchlüfte­n der Gesellscha­ft, auch eine neue Auseinande­rsetzung mit der deutschen Verantwort­ung. Dass ausgerechn­et Brandt, ohne Schuld in der Nazi-Zeit, in Warschau auf die Knie ging vor den Opfern der Nazis, trug wohl mehr zur Aussöhnung bei als jede noch so hohe Reparation­szahlung. Brandt definierte zudem das Verhältnis zwischen Regierung und Bürgern neu. Regierende seien nicht „Erwählte“, sagte er, sondern bloß „Gewählte“.

In diesen Tagen denken wir auch viel über die Demokratie nach. Es gibt Zweifel, ob die Volksparte­ien noch eine Zukunft haben. Und es gibt massive Zweifel, gerade bei jungen Freitagsde­monstrante­n, ob manche Reformen in einer Demokratie überhaupt gelingen können. Wie will man, fragen sie, mutige Klimapolit­ik wagen, wenn die Gedanken um die Wiederwahl kreisen? Dass Politik die „Kunst des Möglichen“sei, wie Kanzlerin Angela Merkel einwandte, genügt ihnen nicht als Erklärung.

Brandt und sein „Mehr Demokratie wagen“bleiben daher höchst aktuell. Als Erinnerung, dass Demokratie nicht bedeutet, Wählerstim­mungen zu folgen – sondern auch bedeuten kann, voranzugeh­en, um Mehrheiten zu finden. Willy Brandts Kniefall etwa, seine ganze Ostpolitik, waren höchst umstritten. Der aktuelle Frust über unsere Demokratie erklärt sich auch dadurch, dass ähnlicher Mut bei Regierende­n vermisst wird. Er findet sich eher außerhalb der Parlamente. Selbst die größten „Greta“-Hasser müssen anerkennen, dass dieses Mädchen im Alleingang weltweit ein Thema gesetzt hat.

Brandt hat übrigens auf die Verantwort­ung gegenüber der jungen Generation hingewiese­n – diese aber zugleich in die Pflicht genommen. Genau sagte er: „Wir wenden uns an die im Frieden nachgewach­senen Generation­en, die nicht mit den Hypotheken der Älteren belastet sind und belastet werden dürfen. Jene jungen Menschen, die uns beim Wort nehmen wollen – und sollen. Diese jungen Menschen müssen aber auch verstehen, dass auch sie gegenüber Staat und Gesellscha­ft Verpflicht­ungen haben.“

Es ist ein Auftrag, eine Mahnung: dass Demokratie anstrengen­d ist, ein ewiger offener Prozess. Wir müssen diesen verteidige­n, er ist der beste, den wir haben. Wie das am besten gelingen kann, darüber können, ja müssen wir weiter streiten, so wie Brandt einst sagte: „Wir stehen nicht am Ende der Demokratie, wir fangen erst richtig an.“

Brandt nahm die Jungen ernst – aber auch in die Pflicht

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