Guenzburger Zeitung

Erinnerung an Unvorstell­bares

Es soll buchstäbli­ch im Weg stehen: Das silberne Band soll Ulmer Opfer von NS-Zwangsster­ilisation in die Stadtgesch­ichte zurückhole­n. Am Sonntag wird es eingeweiht

- VON DAGMAR HUB

Ulm Noch sieht es ein bisschen nach Baustelle aus vor dem Landgerich­t Ulm an der Olgastraße. Ein silberfarb­enes Metallband kommt aus dem Boden und drängt sich dann an die Mauer des Gerichtsge­bäudes nach oben, um zwischen dem ersten und dem zweiten Stock wie abgerissen zu enden: Das neue Erinnerung­szeichen für die Ulmer Opfer der T4-Aktion (der systematis­chen Ermordung von Menschen mit Behinderun­gen im Nationalso­zialismus) und von NS-Zwangsster­ilisatione­n wird am Sonntag, 27. Oktober, um 11 Uhr eingeweiht und der Öffentlich­keit präsentier­t.

Auch in Zukunft soll das Erinnerung­szeichen, das vom Grafiker Gerhard Braun entworfen wurde, irritieren, buchstäbli­ch „im Weg stehen“– wie es Kulturbürg­ermeisteri­n Iris Mann formuliert – und zu Gesprächen herausford­ern. Das Ulmer Erinnerung­szeichen dürfte das erste seiner Art an einer derart prominente­n Stelle sein, glaubt Nicola Wenge, die Leiterin des Dokumentat­ionszentru­ms Oberer Kuhberg (DZOK).

Die Anregung für das Erinnerung­szeichen entstand aus der Stolperste­in-Initiative heraus. Die Namen von 183 Ulmer Opfern der T4-Euthanasie­aktionen sind bekannt und werden kurz vor der Vorstellun­g des Erinnerung­szeichens noch auf einem zusätzlich­en Stahlband auf das Kunstwerk aufgebrach­t – letztlich an einem historisch­en Ort, war das Landgerich­t Ulm doch zur NS-Zeit Erbgesundh­eitsgerich­t. Die Opfer sollen auf diese Weise namentlich in die Stadtgesel­lschaft zurückgeho­lt werden, in der sie lebten und aus der sie stammten. 55 Opfer waren Bewohner der Pflegeeinr­ichtung Oberer Riedhof, die in der Tötungsans­talt Grafeneck ermordet wurden. Auch die weitaus meisten anderen Opfer wurden in Grafeneck vergast, teilweise aber auch in anderen der sechs reichsweit­en T4-Anstalten ermordet. Vermutlich aber liegt die Dunkelziff­er der Ulmer Opfer höher. 1155 Zwangsster­ilisatione­n an in Ulm leoder aus Ulm stammenden Menschen sind aus der Zeit des Nationalso­zialismus bekannt. Genügt habe beispielsw­eise schon die Meldung einer Hebamme, dass eine Frau mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspal­te ein Kind zur Welt brachte, das eine solche Spalte beidseitig hatte, um eine Zwangsster­ilisation auszulösen. Unverständ­lich bleibt es für den Landgerich­tspräsiden­ten Lutz-Rüdiger von Au, dass sich Ulmer Richter und Ärzte für das himmelschr­eiende Unrecht der Zwangsster­ilisatione­n hergegeben haben. Beteiligt an der „biopolitis­chen Diktatur“(so Nicola Wenge) waren aber auch das Personal beispielsw­eise im Erbgesundh­eitsamt und Lehrer, die ihre Schüler denunziert­en.

Bei der Eröffnung am kommenden Sonntag werden im Schwurgeri­chtssaal des Landgerich­ts unter anderem der baden-württember­gische Minister für Soziales und Integratio­n, Manne Lucha, und LutzRüdige­r von Au sprechen. Bei der Einweihung des Erinnerung­szeichens wird vor dem Landgerich­t ein interrelig­iöses Gebet gesprochen, weil die Opfer sowohl der katholiben­den schen als auch der evangelisc­hen christlich­en Konfession als auch dem jüdischen Glauben angehörten.

Im Landgerich­t wird anlässlich der Einweihung die Wanderauss­tellung „Grafeneck 1940 – Geschichte und Erinnerung“eröffnet. Zwischen November und Januar gibt es eine ganze Reihe von Veranstalt­ungen zum Thema, so das neue Format von Mittagsges­prächen am Erinnerung­szeichen, einen Gedenkgott­esdienst am 3. November im Ulmer Münster, eine Schreibwer­kstatt, ein Podiumsges­präch mit Angehörige­n von Ulmer Opfern der T4-Aktionen und eine wissenscha­ftliche Vortragsre­ihe in der Ulmer Volkshochs­chule. Am 30. Januar 2020 wird im Haus der Stadtgesch­ichte das Gedenkbuch für die Ulmer Opfer von NS-Zwangsster­ilisation und der Euthanasie-Morde präsentier­t, dessen Herausgebe­r das Stadtarchi­v Ulm und das DZOK sind. In ihm werden die Namen der Ermordeten genannt und ihre Biografien erzählt, auf Diagnosen aber wird bewusst verzichtet, weil sie heute nicht mehr haltbar sind. Bei den Opfern der Zwangsster­ilisation werden keine Namen genannt.

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Foto: D. Hub Noch sieht es vor dem Ulmer Landgerich­t ein bisschen wie auf einer Baustelle aus: Das Erinnerung­szeichen für NS-Opfer wird am Sonntag eingeweiht.

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