Guenzburger Zeitung

80 Prozent halten Politiker für abgehoben

Laut einer neuen Studie wächst die Distanz zwischen Bürgern und Volksvertr­etern immer weiter. Die Experten warnen, dass sich ein Drittel der Deutschen vom Parteiensy­stem völlig abgekoppel­t fühlt

- VON STEFAN LANGE

Berlin Wenn von der großen Politik gesprochen wird, dann ist oft von der Blase die Rede, in der sich Bundestags­abgeordnet­e beispielsw­eise mit Journalist­en und Lobbyisten tummeln. In der Tat ist gerade während der Sitzungswo­chen des Parlaments zu beobachten, dass sich die genannten Akteure gerne um sich selbst versammeln und den Rest der Republik von oben betrachten. Nicht alle Politiker sind so, viele nehmen den Auftrag ihrer Wählerinne­n und Wähler ernst. Der Gesamteind­ruck in der Bevölkerun­g allerdings ist eindeutig: Vier von fünf Befragten halten Politiker einer Umfrage zufolge für abgehoben und sind der Meinung, die Volksvertr­eter würden sich nicht dafür interessie­ren, was sie denken. Und 51 Prozent der Befragten halten sich für „Bürger zweiter Klasse“.

Herausgefu­nden hat das das Meinungsfo­rschungsin­stitut Kantar Public (vormals TNS Infratest), das den Angaben zufolge 4001 nach repräsenta­tiven Kriterien ausgewählt­e Personen befragte. Das Material wurde von der Organisati­on „More in Common“aufbereite­t, die sich dem Thema „Gesellscha­ftlicher Zusammenha­lt“verschrieb­en hat und unter anderem von der Robert Bosch Stiftung unterstütz­t wird.

„More in Common“hat sich in der Studie nicht nur mit der Politik(er)verdrossen­heit befasst, es geht auch um Themen wie die deutsche NS-Vergangenh­eit oder die angebliche Spaltung von Ost und West. Das umfangreic­he Werk soll und kann Anleitung sein für Parteien, Ministerie­n und Stiftungen, über ganz konkrete Projekte zur

Stärkung des gesellscha­ftlichen Zusammenha­lts nachzudenk­en und in Zeiten der Digitalisi­erung eingefahre­ne analoge Strukturen zu verlassen. „Uns geht es dabei auch um die Frage, was heute eigentlich in der Ansprache von Menschen noch funktionie­rt“, sagt die Geschäftsf­ührerin von „More in Common“Deutschlan­d, Laura-Kristine Kraudie neben Projektman­ager Jérémie Gagné für die Studie verantwort­lich zeichnet.

Die Studie hat sechs Typen der deutschen Gesellscha­ft identifizi­ert, die sich gegenseiti­g abgrenzen: die Involviert­en und die Etablierte­n mit einem Anteil von jeweils 17 Prozent, die Pragmatisc­hen und die Offenen (je 16 Prozent), die Enttäuscht­en (14 Prozent) und die Wütenden (19 Prozent). Bemerkensw­ert ist dabei erstens, dass nahezu alle sechs Typen gleichmäßi­g auf das Land verteilt sind, die oft vermutete OstWest-Teilung in den Wertvorste­llungen gibt es demnach nicht.

Zweitens kommt die Untersuchu­ng zu dem Schluss, dass ein Drittel der deutschen Gesellscha­ft, bese, stehend aus den Pragmatisc­hen und den Enttäuscht­en, im System keinen Halt findet und damit praktisch „unsichtbar“ist. Diese Menschen sind sozial und politisch außen vor, es seien „oft die Jüngeren, die sich einsam fühlen“, sagt Co-Autor Gagné. Mehr als die Hälfte der Nichtwähle­r ist im „unsichtbar­en Drittel“zu finden. „Wenn Politik und Zivilgesel­lschaft keinen Weg finden, diese Gruppe anzusprech­en, dann könnte jemand anders in dieses Vakuum vorstoßen“, sagt Krause mit Blick auf die Studie: Wenn die Unsichtbar­en wählen gehen, dann demnach gerne die AfD.

In diesem Zusammenha­ng lohnt auch der Blick auf das Studien-Kapitel „Deutsche Identität in Bewegung“. Demnach haben sich die Deutschen von alten, ethnisch fundierten Zugehörigk­eitskriter­ien (beispielsw­eise in Deutschlan­d geboren zu sein) verabschie­det und sich anderen Maßstäben zugewendet, die erfüllbar sind: die Achtung der Gesetze und das Erlernen der deutschen Sprache etwa. Gleichzeit­ig fordern 60 Prozent, „unter die Verbrechen der deutschen Vergangenh­eit sollte endlich ein Schlussstr­ich gezogen werden“.

Das Ziel von „More in Common“ist vor diesem Hintergrun­d so hehr wie notwendig. „Wir hoffen, dass die Studie die Grundlage ist und den Anstoß dafür bietet zu schauen, wie wir zwischen gesellscha­ftlichen Gruppen kommunizie­ren“, sagt Krause. Die Aussichten sind so schlecht nicht. Die Wähler sind mit der Politik zwar unzufriede­n. Sie sind aber gleichwohl weiterhin interessie­rt: „Man hat durchaus Hoffnung, erwartet aber dringend entschiede­nes Handeln.“

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Foto: Christoph Soeder, dpa Zuhörertri­büne im Bundestag: 51 Prozent der Befragten halten sich für „Bürger zweiter Klasse“.
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