80 Prozent halten Politiker für abgehoben
Laut einer neuen Studie wächst die Distanz zwischen Bürgern und Volksvertretern immer weiter. Die Experten warnen, dass sich ein Drittel der Deutschen vom Parteiensystem völlig abgekoppelt fühlt
Berlin Wenn von der großen Politik gesprochen wird, dann ist oft von der Blase die Rede, in der sich Bundestagsabgeordnete beispielsweise mit Journalisten und Lobbyisten tummeln. In der Tat ist gerade während der Sitzungswochen des Parlaments zu beobachten, dass sich die genannten Akteure gerne um sich selbst versammeln und den Rest der Republik von oben betrachten. Nicht alle Politiker sind so, viele nehmen den Auftrag ihrer Wählerinnen und Wähler ernst. Der Gesamteindruck in der Bevölkerung allerdings ist eindeutig: Vier von fünf Befragten halten Politiker einer Umfrage zufolge für abgehoben und sind der Meinung, die Volksvertreter würden sich nicht dafür interessieren, was sie denken. Und 51 Prozent der Befragten halten sich für „Bürger zweiter Klasse“.
Herausgefunden hat das das Meinungsforschungsinstitut Kantar Public (vormals TNS Infratest), das den Angaben zufolge 4001 nach repräsentativen Kriterien ausgewählte Personen befragte. Das Material wurde von der Organisation „More in Common“aufbereitet, die sich dem Thema „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“verschrieben hat und unter anderem von der Robert Bosch Stiftung unterstützt wird.
„More in Common“hat sich in der Studie nicht nur mit der Politik(er)verdrossenheit befasst, es geht auch um Themen wie die deutsche NS-Vergangenheit oder die angebliche Spaltung von Ost und West. Das umfangreiche Werk soll und kann Anleitung sein für Parteien, Ministerien und Stiftungen, über ganz konkrete Projekte zur
Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts nachzudenken und in Zeiten der Digitalisierung eingefahrene analoge Strukturen zu verlassen. „Uns geht es dabei auch um die Frage, was heute eigentlich in der Ansprache von Menschen noch funktioniert“, sagt die Geschäftsführerin von „More in Common“Deutschland, Laura-Kristine Kraudie neben Projektmanager Jérémie Gagné für die Studie verantwortlich zeichnet.
Die Studie hat sechs Typen der deutschen Gesellschaft identifiziert, die sich gegenseitig abgrenzen: die Involvierten und die Etablierten mit einem Anteil von jeweils 17 Prozent, die Pragmatischen und die Offenen (je 16 Prozent), die Enttäuschten (14 Prozent) und die Wütenden (19 Prozent). Bemerkenswert ist dabei erstens, dass nahezu alle sechs Typen gleichmäßig auf das Land verteilt sind, die oft vermutete OstWest-Teilung in den Wertvorstellungen gibt es demnach nicht.
Zweitens kommt die Untersuchung zu dem Schluss, dass ein Drittel der deutschen Gesellschaft, bese, stehend aus den Pragmatischen und den Enttäuschten, im System keinen Halt findet und damit praktisch „unsichtbar“ist. Diese Menschen sind sozial und politisch außen vor, es seien „oft die Jüngeren, die sich einsam fühlen“, sagt Co-Autor Gagné. Mehr als die Hälfte der Nichtwähler ist im „unsichtbaren Drittel“zu finden. „Wenn Politik und Zivilgesellschaft keinen Weg finden, diese Gruppe anzusprechen, dann könnte jemand anders in dieses Vakuum vorstoßen“, sagt Krause mit Blick auf die Studie: Wenn die Unsichtbaren wählen gehen, dann demnach gerne die AfD.
In diesem Zusammenhang lohnt auch der Blick auf das Studien-Kapitel „Deutsche Identität in Bewegung“. Demnach haben sich die Deutschen von alten, ethnisch fundierten Zugehörigkeitskriterien (beispielsweise in Deutschland geboren zu sein) verabschiedet und sich anderen Maßstäben zugewendet, die erfüllbar sind: die Achtung der Gesetze und das Erlernen der deutschen Sprache etwa. Gleichzeitig fordern 60 Prozent, „unter die Verbrechen der deutschen Vergangenheit sollte endlich ein Schlussstrich gezogen werden“.
Das Ziel von „More in Common“ist vor diesem Hintergrund so hehr wie notwendig. „Wir hoffen, dass die Studie die Grundlage ist und den Anstoß dafür bietet zu schauen, wie wir zwischen gesellschaftlichen Gruppen kommunizieren“, sagt Krause. Die Aussichten sind so schlecht nicht. Die Wähler sind mit der Politik zwar unzufrieden. Sie sind aber gleichwohl weiterhin interessiert: „Man hat durchaus Hoffnung, erwartet aber dringend entschiedenes Handeln.“