Guenzburger Zeitung

„Mein Leben ist brexitisie­rt“

Seit fünf Jahren berichtet Katrin Pribyl für unsere Redaktion aus Großbritan­nien. Mit dem Entschluss, die EU zu verlassen, ist politische­s Chaos ausgebroch­en. Wen unsere Reporterin bewundert und wer ihr gewaltig auf die Nerven geht

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Frau Pribyl, lassen Sie uns wetten: Wird Großbritan­nien jemals die EU verlassen?

Katrin Pribyl: Auf jeden Fall. Sich aber auf einen Monat festzulege­n, wäre vermutlich verzocktes Geld.

Sie berichten seit dreieinhal­b Jahren über den Brexit. Kann Sie eigentlich noch irgendetwa­s überrasche­n? Pribyl: Mich überrascht bisweilen, dass es immer noch chaotische­r kommen kann.

Wie fühlt es sich an, tagein, tagaus über ein und dasselbe Thema zu berichten – und immer, wenn man denkt, jetzt sei das Ziel erreicht, geht es zurück auf Los?

Pribyl: Es ist fasziniere­nd und mühsam, aufregend und doch wie ein Wahnsinn. Man begleitet ein Stück Zeitgeschi­chte, das ist aus journalist­ischer Sicht natürlich spannend, wenn auch anstrengen­d und zuweilen deprimiere­nd, weil man sich – keineswegs nur gefühlt – im Kreis dreht. Aber ich empfinde es als Privileg, aus London berichten zu dürfen. Leider bleiben viele andere tolle und wichtige Themen wegen des Brexits unerzählt.

Nehmen Sie uns doch mal mit hinter die Kulissen: Wie arbeiten Sie, um beim Brexit am Ball zu bleiben? Pribyl: Ich gehe am Morgen die Zeitungen durch, dann stehen meistens Termine an. Vorhin hatte ich mit anderen europäisch­en Kollegen ein Hintergrun­d-Gespräch mit einem Vertreter der EU-Kommission, der die Verhandlun­gen und den Deal aus Brüsseler Sicht eingeordne­t hat. Die Tage variieren aber stark. Ich treffe mich mit Interviewp­artnern oder Protagonis­ten für Artikel, spreche mit Experten, die das oft äußerst komplizier­te Chaos erklären, oder gehe zu Briefings mit Politikern, Wissenscha­ftlern oder wer auch immer etwas zum Thema zu sagen hat. Die Debatten im Parlament verfolge ich entweder direkt vor Ort in Westminste­r oder ich schaue sie mir am Bildschirm an. Später fahre ich in den Süden Englands nach Winchester, um für eine Geschichte nächste

Woche ein wenig die Stimmung im Volk zu erkunden. Leider schafft man es in diesen Stress-Zeiten zu selten aus der Londoner Blase heraus. Und irgendwann müssen natürlich auch die Texte geschriebe­n werden.

Wie nah kommt man als Korrespond­ent Boris Johnson und Co.?

Pribyl: Leider begegnen viele britische Politiker und vorneweg Minister Auslandsjo­urnalisten mit einem Desinteres­se, das erstaunt. Aber es passt zum Brexit.

Fühlen Sie manchmal den Drang, den Briten die EU schmackhaf­t zu machen?

Pribyl: Ich glaube, es geht mehr darum, ein gegenseiti­ges Verständni­s zu entwickeln. In den Briten hat nie ein europäisch­es Herz geschlagen. Die Europäer, das waren stets die anderen. Dass man sich so wenig zugehörig fühlt, liegt an der geografisc­hen Lage, aber vor allem an der Geschichte des Landes, wo das System in den vergangene­n Jahrhunder­ten – anders als auf dem Kontinent – nie komplett versagt hat. Für das Königreich glich die EU-Mitgliedsc­haft einem Transaktio­nsgeschäft, es ging ganz pragmatisc­h um die wirtschaft­lichen Vorteile, während die Deutschen natürlich aufgrund der eigenen Geschichte einen emotionale­ren Blick auf die EU haben. Das Problem ist, dass die eine Seite nur schwer die andere Seite versteht, was meiner Meinung nach zu der schwierige­n Situation beigetrage­n hat, in der wir uns heute befinden.

Gibt es jemanden, der Sie in dem ganzen Gezerre besonders beeindruck­t? Pribyl: Es ist bemerkensw­ert, wie die

Briten mit dieser unendliche­n Brexit-Saga umgehen. Die meisten haben trotz des Never-ending-Albtraums ihren Humor nicht verloren, was wiederum zeigt, wie wunderbar und einzigarti­g der Humor auf der Insel ist.

Und über wen ärgern Sie sich besonders?

Pribyl: Unangefoch­ten an oberster Stelle der langen Liste steht David Cameron, der ehemalige Premier und Vater dieses Dramas. Unverzeihl­ich ist meiner Meinung nach sein arroganter und aus machtpolit­ischen Spielchen geborener Schritt, ohne Not ein EU-Referendum anzusetzen, durch das das Königreich nun kurz vor dem Kollaps steht. Denn wie die tief gespaltene Gesellscha­ft wieder versöhnt werden kann, bleibt mir ein Rätsel. Abgesehen davon, dass die vergangene­n drei Jahre im Grunde eine einzige Verschwend­ung von Zeit, Energie, Geld und Ressourcen waren.

Unterhalte­n Sie sich eigentlich auch mit Freunden über den Brexit? Pribyl: No, thanks.

Wie oft schauen Sie im Urlaub panisch aufs Handy, ob es Neues im BrexitStre­it gibt?

Pribyl: Die Erkenntnis meines letzten Urlaubs: Man kann in diesen Zeiten nicht mehr in Urlaub fahren. Irgendein Drama entfaltet sich immer. Wobei man ohnehin nicht ganz loslassen kann. Mein Leben wurde, wenn Sie so wollen, brexitisie­rt. Selbst beim Anblick von Kürbissen denke ich mittlerwei­le sofort an den Brexit, da Halloween in meinem Kopf mit dem Austrittst­ermin belegt ist, auch wenn der 31. Oktober seit vergangene­m Wochenende als Brexit-Datum Geschichte ist.

Als Sie 2014 nach London zogen, war Ihre Sorge, künftig nur noch über die royale Familie berichten zu dürfen. Sehnen Sie sich inzwischen nach Klatsch und Tratsch aus dem Königshaus?

Pribyl: Wenn es denn so wäre. Der royale Zirkus begleitet einen trotz Brexit, aber meistens empfinde ich das inzwischen als willkommen­e Ablenkung. Manchmal muss ich schmunzeln, wenn ich mich an die Worte eines Kollegen erinnere, der damals, kurz vor meinem Wechsel nach London, meinte, Großbritan­nien sei in politische­r Hinsicht langweilig als Korrespond­enten-Standort. Das darf man heute auch als die Fehleinsch­ätzung des Jahrhunder­ts bezeichnen.

Interview: Margit Hufnagel

 ?? Foto: Getty ?? Europa-Anhänger demonstrie­ren in London gegen den Brexit. Seit der Austritt aus der EU vor mehr als drei Jahren beschlosse­n wurde, gibt es kaum ein anderes politische­s Thema mehr auf der Insel.
Foto: Getty Europa-Anhänger demonstrie­ren in London gegen den Brexit. Seit der Austritt aus der EU vor mehr als drei Jahren beschlosse­n wurde, gibt es kaum ein anderes politische­s Thema mehr auf der Insel.

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