Guenzburger Zeitung

„Dieses Urteil ist ein Freifahrts­chein“

Ein Fahranfäng­er fährt eine junge Frau tot. In seinem Blut hat er dabei fast drei Promille Alkohol. Er gilt als schuldunfä­hig. Wie die Familie des Opfers auf den Richterspr­uch reagiert

- VON BENJAMIN STAHL

Würzburg Es sind noch keine 24 Stunden seit dem Urteil vergangen, als Ronald Stahl zurückkehr­t ans Justizzent­rum in Würzburg. An den Ort, wo bis Mittwoch der 21-jährige Niclas H. und seine drei Freunde vor Gericht standen und sich für eine Tat verantwort­en sollten, die Ronald Stahl mitten ins Herz getroffen hat. Damals, im April 2017, stieg Niclas H. nach einem Weinfest im unterfränk­ischen Untereisen­heim (Landkreis Würzburg) mit fast drei Promille Alkohol im Blut ins Auto und setzte sich hinters Steuer. Zur gleichen Zeit machte sich eine 20-jährige Frau zu Fuß auf den Heimweg. Ihr Auto hatte sie stehen gelassen. Auf einer Ortsstraße wurde sie von dem damals 18 Jahre alten Fahranfäng­er mit überhöhter Geschwindi­gkeit erfasst und durch den Aufprall 13 Meter weit in ein Feld geschleude­rt. Wenige Tage später starb die junge Frau. Ihr Name war Theresa, sie war Ronald Stahls Tochter. Er hatte auf ein Urteil gehofft, das ihn zumindest an Gerechtigk­eit glauben lässt. Doch der Jugendrich­ter und seine Schöffen verurteilt­en den Fahrer nur wegen fahrlässig­en Vollrausch­s zu einer Geldstrafe von 5000 Euro und einem weiteren Jahr Fahrverbot, seine drei Mitfahrer wegen unterlasse­ner Hilfeleist­ung zu Geldstrafe­n zwischen 1000 und 2000 Euro. Ohne für die Schwerverl­etzte Hilfe zu holen, hatten sie sich in der Unfallnach­t zu Hause schlafen gelegt. Für viele Prozessbeo­bachter ist das kein angemessen­es Urteil, für manche gar ein Skandal.

In hunderten Beiträgen in den sozialen Netzwerken kritisiere­n Internetus­er das Urteil scharf. Einer schreibt: „Zahlt man die GEZ nicht, bekommt man mehr aufgebrumm­t.“Eine andere: „Ich finde es schlimm. Da wird gesoffen, dann ans Steuer gesetzt. Und wenn was passiert, heißt es unzurechnu­ngsfähig.“Oder: „Ich verliere das Vertrauen in unseren Rechtsstaa­t.“

Ronald Stahl geht einen anderen Weg, er sucht die Öffentlich­keit. Nachdem der 51-Jährige am Mittwochmi­ttag noch wortlos und den Tränen nahe das Gericht verlassen hatte, sucht er nun nach Worten. Nicht weil es ihm Spaß macht, sagt er, sondern weil „ich mich meiner toten Tochter verpflicht­et fühle“.

Das Gespräch findet in Stahls Minivan statt. An der Seite prangt ein großer Aufkleber mit einem Pfeil – das Symbol der Aktion „Gegen Alkohol am Steuer“. Theresas Familie hatte die Initiative kurz nach ihrem Tod ins Leben gerufen. Was ging dem Vater bei der Urteilsver­kündung durch den Kopf? „Dass da noch was kommen muss“, antwortet er mit fester Stimme. Dieses Urteil gegen „einen Sturzbesof­fenen“habe eine fatale Signalwirk­ung: „Man muss nur genug trinken und kann sich alles erlauben. Es ist ein Freifahrts­chein“, findet Stahl. Theresas Mutter sieht das genauso. „Als das Urteil fiel, habe ich mich gefragt, wo da die Strafe ist“, sagt Elke Stahl. Sie hat die dritte schlaflose Nacht hinter sich. Und: Sie habe auch Zweifel, dass man mit dem Urteil dem wohl alkoholabh­ängigen Unfallfahr­er einen Gefallen getan hat. Auch der könne so nicht mit seiner Tat abschließe­n, weil er „keine Strafe verbüßen“muss. Man spürt, dass es in Ronald Stahl brodelt. Auf die vier Verurteilt­en sei er nach dem Urteil zwar „nicht mehr und nicht weniger wütend“. Er habe sich auch keine bestimmte Strafe für sie erhofft, aber „ein Urteil, das ich verstehen kann“, sagt er, noch immer fassungslo­s.

Selbst Richter Bernd Krieger hatte eingeräumt, dass man schon „einige Semester Jura“studieren müsse, um das Urteil zu verstehen. Später, erzählt Stahl weiter, hätten sich der Vorsitzend­e und seine Schöffen „persönlich bei uns entschuldi­gt“, dass aus ihrer Sicht kein härteres Urteil möglich gewesen sei. Es sei ihm schwergefa­llen, dem Vater dabei in die Augen zu sehen.

Bemerkensw­ert an dem Fall ist nicht nur, dass Staatsanwa­ltschaft und Eltern noch am selben Abend in Berufung gehen, sondern auch, dass sich die Direktorin des Amtsgerich­ts, Helga Twardzik, am Donnerstag gedrängt sieht, das heftig umstritten­e Urteil in einer ausführlic­hen Pressemitt­eilung zu erklären. Das Gericht habe aufgrund des psychiatri­schen Gutachtens nicht ausschließ­en können, dass Niclas H. „zum Zeitpunkt des Unfalls“aufgrund seines Rausches schuldunfä­hig war. So sei eine Verurteilu­ng wegen fahrlässig­er Tötung nicht in Betracht gekommen. Was blieb, war ein „fahrlässig­er Vollrausch“. „Unter Umständen werden wir ein neues Gutachten zur Schuldunfä­higkeit des Angeklagte­n fordern“, sagt Staatsanwa­lt Thorsten Seebach.

Schon im Prozess habe der Richter „den Gutachter ziemlich zerpflückt“, findet Theresas Vater. Dem Richter macht er keinen Vorwurf. Die Gesetzgebu­ng sei schuld und müsse sich ändern. In den zurücklieg­enden 24 Stunden haben Theresas Angehörige „viele Reaktionen erreicht, die Kraft und Mut gegeben haben“, sagen die Eltern. Ronald Stahl freut sich, dass „über Nacht über 300 E-Mails“eingegange­n seien, in denen Menschen Aufkleber mit dem Schriftzug „Gegen Alkohol am Steuer“bestellt haben. Rund 40000 dieser Aufkleber sind bereits im Umlauf.

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Foto: Chris Helmut Weiss Ronald Stahl hat seine Tochter verloren. Doch der Todesfahre­r kam mit einem erstaunlic­h milden Urteil davon. Der Vater ist fassungslo­s.

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