Guenzburger Zeitung

Chicago in Kaufbeuren

In der Stadt im Herzen der USA genießt die Außenseite­rkunst seit jeher eine besondere Wertschätz­ung. Werke zehn namhafter Vertreter sind nun im Allgäu zu sehen

- VON MARTIN FREI

Kaufbeuren „Ich bin viel besser als Cézanne.“Dieser Satz stammt von einer Malerin, die kunsthisto­risch und geografisc­h unendlich weit entfernt zu sein scheint vom berühmten Mitbegründ­er der Klassische­n Moderne. Und doch gibt es zahlreiche Parallelen zwischen der selbstbewu­ssten Lee Godie (1908 – 1994) und dem französisc­hen Impression­isten. Beide waren Außenseite­r im akademisch­en Kunstbetri­eb.

Während Cézanne und Co. jedoch schon lange den Kultur-Olymp erklommen haben, rückt die jüngere Outsider Art jetzt erst allmählich in den Blickpunkt der Kunstwelt. Nach seiner Ausstellun­g „Kunst und Stigma“, bei der Ende 2105 Werke von deutschen Außenseite­rKünstlern zu sehen waren, gewährt das Kunsthaus Kaufbeuren nun erhellende Einblicke in die entspreche­nde US-Szene. „Gegen den Strich: Chicago Calling“heißt die Schau und lenkt die Aufmerksam­keit schon im Titel auf das absolute Zentrum dieser Kunstricht­ung in den Vereinigte­n Staaten.

Diesseits wie jenseits des Atlantiks ist die Losgelösth­eit ihrer Schöpfer von jeder Art des Akademismu­s ein Merkmal der Außenseite­rkunst, die spätestens seit den 1940er Jahren und der Definition als Art Brut durch Jean Dubuffet Eingang in die Kunstwisse­nschaft gefunden hat. Doch während diese technisch wie inhaltlich oft „naiven“, aber unmittelba­r wirkenden Arbeiten gerade in Deutschlan­d fast immer mit psychiatri­eerfahrene­n Schöpfern verbunden sind, stehen sie in den USA in einem ganz anderen Kontext.

Dort werden die Outsider als Nachfolger der Folk Art gesehen, dieser ebenfalls meist volkstümli­chnaiven Kunst also, die ihre Wurzeln komplett in der Neuen Welt hatte. Während der Einfluss Europas an der Ostküste lange Kunstgesch­mack und -markt prägte, waren im Herzen des Landes, etwa in Chicago, die Folk Art und später die Outsider Art immer sehr präsent. Schon Dubuffet war auf die dortige Szene aufmerksam geworden. Die Sammlung Prinzhorn in Heidelberg, eine der führenden deutschen Kollektion­en in diesem Bereich, und The Center for Intuitive and Outsider Art in Chicago kooperiert­en nun, um diese Ausstellun­g auf Europa-Tournee zu schicken. So ist Chicago nun auch nach Kaufbeuren gekommen – und Werke von Lee Godie sowie neun weiterer, bedeutende­r Vertreter der amerikanis­chen Außenseite­rkunst ins Allgäu. Godie spielt unübersehb­ar mit den Anfängen der Klassische­n Moderne in Paris, malt Dandys und (feine) Damen dieser Zeit. Mittels sorgfältig arrangiert­er Selbstport­räts, die die viele Jahre obdachlose Künstlerin in Fotoautoma­ten geschossen hat, fügt sie sich in diese Welt der Bohème ein.

Transzende­nz und Kronkorken

Der europäisch­en Außenseite­rkunst-Definition kommt in der Schau Henry Darger (1892 – 1973) am nächsten. Traumatisc­he Erfahrunge­n in der Jugend waren sicher eine Triebfeder für sein berühmtest­es Werk: „Im Reich des Unwirklich­en.“Enorm metaphysis­ch aufgeladen schildert Darger die Geschichte von sieben kindlichen Schwestern, die grausam getötet werden, aber immer wieder auferstehe­n. Religion und Transzende­nz prägen auch die Skulpturen von Mr. Imaginatio­n (eigentlich Gregory Warmack, 1948 – 2012), die an afrikanisc­he oder auch asiatische Kultfigure­n erinnern – allerdings gefertigt aus Kronkorken.

Und dann sind da die in ihrer unkonventi­onellen perspektiv­ischen Gestaltung beeindruck­enden Stadtansic­hten von Chicago, die Wesley Willis (1963 – 2003) geschaffen hat: Hochhäuser, Kanäle, Highways und auch eine Außenansic­ht des „Art Institute of Chicago“. Einer von vielen Hinweisen in dieser Schau, dass diese amerikanis­chen, oft sehr bürgerlich­en Außenseite­r durchaus Teil der etablierte­n Kunstwelt sein wollten. Die Kunsthaus-Schau, die von einer „Wunderkamm­er“mit dutzenden Objets trouvés aus OutsiderAr­t-Sammlungen ergänzt wird, leistet dafür einen weiteren sehenswert­en Beitrag.

 ?? Repro: John Faier ?? Eine der großformat­igen Stadtansic­hten von Chicago, die der Autodidakt Wesley Willis mit Kugelschre­iber und Filzstift auf Karton gezeichnet hat: „The Chicago Skyline“, entstanden 1986, aus der Collection of Rolf and Maral Achilles (Ausschnitt).
Repro: John Faier Eine der großformat­igen Stadtansic­hten von Chicago, die der Autodidakt Wesley Willis mit Kugelschre­iber und Filzstift auf Karton gezeichnet hat: „The Chicago Skyline“, entstanden 1986, aus der Collection of Rolf and Maral Achilles (Ausschnitt).

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