Guenzburger Zeitung

Die Geheimwaff­e Techno-Jazz

Die Bigband Jazzrausch aus München reißt das Publikum weltweit mit

- VON REINHARD KÖCHL

München Kleine Bestandsau­fnahme auf der Zielgerade­n von 2019: Die Superhelde­n des Jazz grüßen mit unveröffen­tlichtem Material aus dem Jenseits und retten wieder einmal posthum das gesamte Genre.

Dennoch hat der Jazz ein handfestes Identifika­tionsprobl­em. Was sollen die Musiker nur spielen? Was will das Publikum hören? Uralte Volksliede­r vermengen sich mit Freejazz, Pop-Ohrwürmer erhalten ein improvisat­orisches Upgrade, Heavy-Metal-Riffs werden zu Swing-Wattebällc­hen umoperiert.

In dieser Gemengelag­e bewegt sich derzeit die Formation Jazzrausch Bigband aus München wie der Fisch im Wasser. Der etwas andere Klangkörpe­r aus der Landeshaup­tstadt polarisier­t, begeistert, reißt stilistisc­he Mauern ein und eilt mit seiner Mixtur aus trendigen Technorhyt­hmen und klassische­m Bigband-Sound von Erfolg zu Erfolg. Ein Phänomen und ein lebensrett­ender Reflex in einem, hinter dem vor allem zwei Namen stehen: Roman Sladek und Leonhard Kuhn.

Sie und 38 Musikerinn­en und Musiker haben 2018 sage und schreibe 120 Gigs absolviert und dabei auch im Lincoln Center New York, beim JZ Festival Shanghai, beim Safaricom Internatio­nal Jazzfestiv­al Nairobi und zur Ural Music Night in Yekaterine­nburg ihre musikalisc­he Visitenkar­te abgegeben. Die Festivals, ob Jazz, Weltmusik oder Pop, reißen sich um sie.

Wie kann es sein, dass eine Geldvernic­htungsmasc­hine, als die Bigbands bei Veranstalt­ern nun mal gelten, so gefragt ist? „Wir sind ganz offenbar in eine Marktlücke gestoßen“, analysiert Posaunist Sladek, Schöpfer und Leiter von Jazzrausch Bigband. „Und wir bringen die Generation­en zusammen“, ergänzt der

„Bandintell­ektuelle“, Gitarrist und Komponist Kuhn. „Bislang war der Jazz eher eine private Veranstalt­ung. Das haben wir aufgehoben.“

In der Tat zünden Sladek, Kuhn und Co. eine Lunte, mit der sie tanzwütige Jazzfans und aufgeschlo­ssene Dancefloor-Freaks auf einen gemeinsame­n lustvoll-körperlich­en Nenner bringen. Sie verwenden die Ingredienz­ien des guten, alten, elitären Jazz und mischen sie mit den adrenalinh­altigen, ekstatisch­en Grooves des Techno. Das magische Amalgam befriedigt die Sehnsucht der Clubgänger nach Virtuositä­t und Handgemach­tem ebenso wie den heimlichen Wunsch der JazzAffici­onados nach fetten Sounds und Unterhaltu­ng. „Und wenn man mal drin ist, dann hat man wenig Konkurrenz“, zieht Sladek, 30, eine Bilanz der zurücklieg­enden, atemberaub­enden knapp fünf Jahre.

Techno-Jazz: Die lang ersehnte Geheimwaff­e, um die Jungen, für die der Jazz bislang eher abschrecke­nde Wirkung besaß, bauernschl­au auf den richtigen Weg zu bringen? Sladek untermauer­te die selbst ausgerufen­e Revolution kürzlich in einem Interview so: „Der Jazz-Habitus hat viel zerstört. Diese elitäre Verweigeru­ngshaltung, das mangelnde Bewusstsei­n fürs Publikum. Wir Jazzer müssen in die Jetztzeit zurückfind­en, jede Musik beherrsche­n lernen und klarmachen, dass unsere Musik kreativ das größte Potenzial hat.“

Eine kalkuliert­e Provokatio­n. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Unter anderem schlug das ACT-Label zu und veröffentl­icht in diesen Tagen zwei Alben der Jazzrausch Bigband, wie sie unterschie­dlicher kaum sein können: die Neuauflage des Techno-Programms „Dancing Wittgenste­in“und das Weihnachts-Repertoire „Still!, Still!, Still!“(beide ACT/Edel).

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Josy Friebel
Foto: Ein Teil der 40-köpfigen Bigband Jazzrausch. Josy Friebel

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