Schöne neue Welt?
In München sprechen Medienprofis und Forscher über Branchen- und Technologie-Trends. In diesem Jahr dominiert die Ansicht: Es ist etwas aus dem Ruder gelaufen. Und: Das „Digitale“muss besser werden. Irgendwie
Kinder, die auf Youtube Nasa-Videos schauen und wenig später erstaunt sagen: „Mama, Papa, die Mondlandung gab’s gar nicht!“
Jogging-Videos, auf die schnell Videos von Ultramarathons folgen.
Oder: Wer Videos von Wahlkampfauftritten Donald Trumps sah, dem empfahl der Algorithmus der Videoplattform „white supremacy“-Content. Videos also mit rassistischem Inhalt zur „Überlegenheit der Weißen“. Bis hin zur Holocaust-Leugnung.
Willkommen in der schönen neuen Digitalwelt. Und auf den Medientagen München, die in diesem Jahr von Diskussionen über die Gefahren und Grenzen des Digitalen dominiert werden. Die Branche experimentiert mit Künstlicher Intelligenz oder virtual reality, befasst sich intensiv mit der Internet-Infrastruktur – zugleich zeigt sie sich besorgter denn je.
Wie Zeynep Tufekci, die am Mittwoch einen auf große Zustimmung gestoßenen Eröffnungsvortrag hielt. Die in Istanbul geborene Technologie-Soziologin an der University of North Carolina, Chapel Hill, und New York Times-Kolumnistin setzte in den Fluren des Internationalen Congress Center München und weit darüber hinaus den Ton mit ihrer Kritik an den Empfehlungsalgorithmen von Youtube und an der Funktionsweise des so
Netzwerks Facebook: „Wir sollten besorgt sein.“
Tufekci beschäftigte sich vor ein paar Jahren bereits mit dem Thema, von ihr stammen die Beispiele mit den Nasa-, Jogging-, Trump-Videos. Bei den anderen Kandidaten für die vergangene US-Präsidentschaftswahl verhielt es sich nicht anders. Sah sie Videos von Auftritten Hillary Clintons oder Bernie Sanders’, zeigte ihr Youtube „linke Verschwörungstheorien“. Eine Gefahr, insbesondere für Kinder und Jugendliche, die dort Videos in Dauerschleife präsentiert bekommen – und denen Youtube als wichtige Suchmaschine dient. Es ist ihr Zugang zur Welt, doch diese Welt erscheint als ein – von Computersoftware der USInternetgiganten geschaffenes – Gebilde aus Verschwörungstheorien, Hass und Fake News. „Was auch immer Sie tun, Youtube treibt Sie ans Äußerste“, sagte Tufekci. Die Gesellschaft werde dadurch zerrissen, die Demokratie sei in Gefahr.
„Wir haben alle den Eindruck, dass sich unsere Gesellschaft gerade verändert“, stellte auch Simon Hegelich, Professor für Political Data Science an der Technischen Universität München, alarmiert fest. „Freundschaft – ist nicht mehr das Gleiche; Dating – ist nicht mehr das Gleiche; Arbeiten – ist nicht mehr das Gleiche.“Die Digitalisierung läuft, bei all ihren großen und großartigen Segnungen, aus dem Ruder.
Das ist eine Ansicht, die breiter ist bei den Medientagen, einem der größten Branchentreffs Europas. Ähnlich äußerten sich Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder, Forscher, Medienschaffende aus sämtlichen Bereichen und der Philosoph Julian Nida-Rümelin. Und das ist überaus bemerkenswert: Denn nur auf Basis eines Befundes, der von einer Mehrheit geteilt wird, kann sich etwas ändern.
In diesem Fall: Die digitale Welt kann nur so zu einer besseren werden. Zumindest ist das eines von zwei Szenarios, die Nida-Rümelin, der bundesweit bekannte Münchner
Professor Simon Hegelich
Philosoph und frühere Kultur- und Medienstaatsminister, für möglich hält. Dieses Szenario wäre: Der Höhepunkt einer Populismus-Welle ist überschritten und „die digitalen Kommunikationsformen könnten beitragen zu einer Revitalisierung der Demokratie“. Er sieht Anzeichen dafür in der „erstaunlich hohen Zustimmungsrate zur Europäischen Union“oder in der politischen „Trendwende in Italien“, wo es dem rechtsradikalen Matteo Salvini nicht gelang, an die Macht zu kommen.
„Next Digital Level: Let’s build the Media we want!“– „Der nächste digitale Level: Bauen wir die Mezialen dien, die wir wollen!“, lautet das Motto der Medientage München, die an diesem Freitag enden. Und auch das ist überaus bemerkenswert: Denn dass „wir“die digitale Welt dringend im Sinne des Allgemeinwohls verändern sollten und müssen, das war in den vergangenen Jahren eher ein Randthema. Eines zum Beispiel für die wenigen Medienethiker und professionellen Medienkritiker in Deutschland.
Doch der Handlungsdruck ist gestiegen und steigt weiter. Oder, in den Worten Söders: Schaffe es Europa nicht, Google und Co. etwas Eigenes entgegenzusetzen, „bleiben wir eine digitale Kolonie anderer“. Was nichts anderes meint als „abhängig“und „ausgeliefert“. Was genau jedoch die digitale Welt zu einer besseren machen soll, ist bislang vage geblieben: eine europäische Internetplattform, schlagen die einen vor. Mehr Regulierung die anderen.
Welche Folgen die Digitalisierung auf das Leben eines jeden Einzelnen haben kann, sieht man jedenfalls in China. In der Volksrepublik wird etwas getestet, das unter dem Begriff „Social Scoring“im Westen Kritik und Ängste auslöst. Ein monströses Volkserziehungsprogramm samt Belohnungsund Bestrafungssystem, gespeist aus den Daten der Bürger. „Big Brother is watching you“– ist Realität. Vor allem aber vermischen sich in China digitale und analoge Wirklichkeit. Die „Super-App“WeChat, die im Prinzip jeder chinesiKonsens sche Smartphone-Besitzer hat, ist ein Beispiel dafür. Sie kombiniert Chatunter anderem mit Bezahlfunktionen. Besonders macht sie jedoch die Scan-Funktion.
In China sind QR-Codes allgegenwärtig. Mithilfe der Scan-Funktion von WeChat lassen sie sich einlesen. Auf diese Weise können Nutzer bequem in Restaurants Essen bestellen oder bezahlen. Oder, wie Unternehmensberater Sven Spöde erzählte, spielen. Er sei kürzlich in China in einer Bar gewesen. Auf einmal stoppte die Band und auf einer Leinwand wurde ein QR-Code eingeblendet. Die Menschen um ihn herum schüttelten ihre Handys. Wer am meisten schüttelte, gewann etwas. Und über den QR-Code, über den die Barbesucher an dem Spiel teilnahmen, wusste der Barbesitzer, wer sich bei ihm aufhielt – und konnte zielgenau seine Newsletter verschicken.
In China werden überall Daten gesammelt, die Bürger gläsern – und dadurch leicht manipulier- und überwachbar. Das zweite Szenario des Philosophen Julian Nida-Rümelin? Der Verfall der politischen Kultur, das Auseinanderfallen der Gesellschaft in digitale Stämme – die miteinander nicht mehr ins Gespräch kommen.
Wie heute schon in den USA, wo es „eine Art geistigen Bürgerkrieg“gebe, so Nida-Rümelin. Trumpund Clinton-Anhänger finden dort kaum mehr zueinander.
„Wir haben alle den Eindruck, dass sich unsere Gesellschaft gerade verändert.“