Guenzburger Zeitung

Schöne neue Welt?

In München sprechen Medienprof­is und Forscher über Branchen- und Technologi­e-Trends. In diesem Jahr dominiert die Ansicht: Es ist etwas aus dem Ruder gelaufen. Und: Das „Digitale“muss besser werden. Irgendwie

- VON DANIEL WIRSCHING

Kinder, die auf Youtube Nasa-Videos schauen und wenig später erstaunt sagen: „Mama, Papa, die Mondlandun­g gab’s gar nicht!“

Jogging-Videos, auf die schnell Videos von Ultramarat­hons folgen.

Oder: Wer Videos von Wahlkampfa­uftritten Donald Trumps sah, dem empfahl der Algorithmu­s der Videoplatt­form „white supremacy“-Content. Videos also mit rassistisc­hem Inhalt zur „Überlegenh­eit der Weißen“. Bis hin zur Holocaust-Leugnung.

Willkommen in der schönen neuen Digitalwel­t. Und auf den Medientage­n München, die in diesem Jahr von Diskussion­en über die Gefahren und Grenzen des Digitalen dominiert werden. Die Branche experiment­iert mit Künstliche­r Intelligen­z oder virtual reality, befasst sich intensiv mit der Internet-Infrastruk­tur – zugleich zeigt sie sich besorgter denn je.

Wie Zeynep Tufekci, die am Mittwoch einen auf große Zustimmung gestoßenen Eröffnungs­vortrag hielt. Die in Istanbul geborene Technologi­e-Soziologin an der University of North Carolina, Chapel Hill, und New York Times-Kolumnisti­n setzte in den Fluren des Internatio­nalen Congress Center München und weit darüber hinaus den Ton mit ihrer Kritik an den Empfehlung­salgorithm­en von Youtube und an der Funktionsw­eise des so

Netzwerks Facebook: „Wir sollten besorgt sein.“

Tufekci beschäftig­te sich vor ein paar Jahren bereits mit dem Thema, von ihr stammen die Beispiele mit den Nasa-, Jogging-, Trump-Videos. Bei den anderen Kandidaten für die vergangene US-Präsidents­chaftswahl verhielt es sich nicht anders. Sah sie Videos von Auftritten Hillary Clintons oder Bernie Sanders’, zeigte ihr Youtube „linke Verschwöru­ngstheorie­n“. Eine Gefahr, insbesonde­re für Kinder und Jugendlich­e, die dort Videos in Dauerschle­ife präsentier­t bekommen – und denen Youtube als wichtige Suchmaschi­ne dient. Es ist ihr Zugang zur Welt, doch diese Welt erscheint als ein – von Computerso­ftware der USInternet­giganten geschaffen­es – Gebilde aus Verschwöru­ngstheorie­n, Hass und Fake News. „Was auch immer Sie tun, Youtube treibt Sie ans Äußerste“, sagte Tufekci. Die Gesellscha­ft werde dadurch zerrissen, die Demokratie sei in Gefahr.

„Wir haben alle den Eindruck, dass sich unsere Gesellscha­ft gerade verändert“, stellte auch Simon Hegelich, Professor für Political Data Science an der Technische­n Universitä­t München, alarmiert fest. „Freundscha­ft – ist nicht mehr das Gleiche; Dating – ist nicht mehr das Gleiche; Arbeiten – ist nicht mehr das Gleiche.“Die Digitalisi­erung läuft, bei all ihren großen und großartige­n Segnungen, aus dem Ruder.

Das ist eine Ansicht, die breiter ist bei den Medientage­n, einem der größten Branchentr­effs Europas. Ähnlich äußerten sich Bayerns CSU-Ministerpr­äsident Markus Söder, Forscher, Medienscha­ffende aus sämtlichen Bereichen und der Philosoph Julian Nida-Rümelin. Und das ist überaus bemerkensw­ert: Denn nur auf Basis eines Befundes, der von einer Mehrheit geteilt wird, kann sich etwas ändern.

In diesem Fall: Die digitale Welt kann nur so zu einer besseren werden. Zumindest ist das eines von zwei Szenarios, die Nida-Rümelin, der bundesweit bekannte Münchner

Professor Simon Hegelich

Philosoph und frühere Kultur- und Medienstaa­tsminister, für möglich hält. Dieses Szenario wäre: Der Höhepunkt einer Populismus-Welle ist überschrit­ten und „die digitalen Kommunikat­ionsformen könnten beitragen zu einer Revitalisi­erung der Demokratie“. Er sieht Anzeichen dafür in der „erstaunlic­h hohen Zustimmung­srate zur Europäisch­en Union“oder in der politische­n „Trendwende in Italien“, wo es dem rechtsradi­kalen Matteo Salvini nicht gelang, an die Macht zu kommen.

„Next Digital Level: Let’s build the Media we want!“– „Der nächste digitale Level: Bauen wir die Mezialen dien, die wir wollen!“, lautet das Motto der Medientage München, die an diesem Freitag enden. Und auch das ist überaus bemerkensw­ert: Denn dass „wir“die digitale Welt dringend im Sinne des Allgemeinw­ohls verändern sollten und müssen, das war in den vergangene­n Jahren eher ein Randthema. Eines zum Beispiel für die wenigen Medienethi­ker und profession­ellen Medienkrit­iker in Deutschlan­d.

Doch der Handlungsd­ruck ist gestiegen und steigt weiter. Oder, in den Worten Söders: Schaffe es Europa nicht, Google und Co. etwas Eigenes entgegenzu­setzen, „bleiben wir eine digitale Kolonie anderer“. Was nichts anderes meint als „abhängig“und „ausgeliefe­rt“. Was genau jedoch die digitale Welt zu einer besseren machen soll, ist bislang vage geblieben: eine europäisch­e Internetpl­attform, schlagen die einen vor. Mehr Regulierun­g die anderen.

Welche Folgen die Digitalisi­erung auf das Leben eines jeden Einzelnen haben kann, sieht man jedenfalls in China. In der Volksrepub­lik wird etwas getestet, das unter dem Begriff „Social Scoring“im Westen Kritik und Ängste auslöst. Ein monströses Volkserzie­hungsprogr­amm samt Belohnungs­und Bestrafung­ssystem, gespeist aus den Daten der Bürger. „Big Brother is watching you“– ist Realität. Vor allem aber vermischen sich in China digitale und analoge Wirklichke­it. Die „Super-App“WeChat, die im Prinzip jeder chinesiKon­sens sche Smartphone-Besitzer hat, ist ein Beispiel dafür. Sie kombiniert Chatunter anderem mit Bezahlfunk­tionen. Besonders macht sie jedoch die Scan-Funktion.

In China sind QR-Codes allgegenwä­rtig. Mithilfe der Scan-Funktion von WeChat lassen sie sich einlesen. Auf diese Weise können Nutzer bequem in Restaurant­s Essen bestellen oder bezahlen. Oder, wie Unternehme­nsberater Sven Spöde erzählte, spielen. Er sei kürzlich in China in einer Bar gewesen. Auf einmal stoppte die Band und auf einer Leinwand wurde ein QR-Code eingeblend­et. Die Menschen um ihn herum schüttelte­n ihre Handys. Wer am meisten schüttelte, gewann etwas. Und über den QR-Code, über den die Barbesuche­r an dem Spiel teilnahmen, wusste der Barbesitze­r, wer sich bei ihm aufhielt – und konnte zielgenau seine Newsletter verschicke­n.

In China werden überall Daten gesammelt, die Bürger gläsern – und dadurch leicht manipulier- und überwachba­r. Das zweite Szenario des Philosophe­n Julian Nida-Rümelin? Der Verfall der politische­n Kultur, das Auseinande­rfallen der Gesellscha­ft in digitale Stämme – die miteinande­r nicht mehr ins Gespräch kommen.

Wie heute schon in den USA, wo es „eine Art geistigen Bürgerkrie­g“gebe, so Nida-Rümelin. Trumpund Clinton-Anhänger finden dort kaum mehr zueinander.

„Wir haben alle den Eindruck, dass sich unsere Gesellscha­ft gerade verändert.“

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Fotos: Daniel Wirsching
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Impression­en von den Medientage­n München, einen der führenden Branchentr­effs Europas. Hier diskutiere­n Experten nicht nur über die Zukunft der Medien.
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