Guenzburger Zeitung

„Du wachst nie wieder auf“

Die Belgierin Marieke Vervoort gewann Olympia-Gold. Die 40-Jährige, die an einer unheilbare­n Muskelerkr­ankung litt, schied nun mit legaler Sterbehilf­e aus dem Leben

- VON DETLEF DREWES

Brüssel Marieke Vervoort starb, wie sie es sich gewünscht hatte – mit einem Glas Sekt in der Hand. Noch einmal hatte die 40-jährige Belgierin mit Freunden und Familie angestoßen. Dann schlief sie am Dienstag dieser Woche in ihrem Geburtsort Diest ein. Schmetterl­inge aus einer roten Schachtel wurden freigelass­en und erhoben sich in die Lüfte. Ihr Leibarzt Wim Distelmans sagte der flämischen Tageszeitu­ng De Standaard: „Bis zur letzten Minute führte sie Regie über ihr Leben.“

Marieke Vervoort war eine der erfolgreic­hsten Sportlerin­nen, die Belgien je gehabt hat. „Ein wahrer Champion und eine Quelle der Inspiratio­n“twitterte Tennis-GrandSlam-Gewinnerin Kim Clijsters. „Aber vor allem war sie eine wunderbare, großherzig­e Frau.“Bei den Paralympic­s in London 2012 gewann Marieke Vervoort als Handbikeri­n Gold über 100 Meter und Bronze über 200 Meter. In Rio de Janeiro holte sie 2016 Silber über 400 Meter und Bronze über 100 Meter. 2006 und 2007 wurde sie Weltmeiste­rin im Paratriath­lon und gewann den Ironman auf Hawaii. Das ist die eine Seite der Marieke Vervoort. Die andere ist eine Geschichte voller Schmerzen und Qualen. Mit 14 befiel sie eine unheilbare und extrem schmerzhaf­te Wirbelsäul­enerkranku­ng namens Progressiv­e Tetraplegi­a mit einer Reflex Sympatheti­c Dystrophy. Dabei wird der Körper zunehmend gelähmt. Ausgelöst wurde die Erkrankung durch eine – wie die belgischen Ärzte sagten – unerklärli­che Verformung des fünften und sechsten Halswirbel­s.

Betroffene beschreibe­n die Schmerzen als pochend, brennend, stechend oder sogar als ständige Qual. Seit 2000 war Vervoort auf den Rollstuhl angewiesen. In ihren letzten Monaten habe sie manchmal nur zehn Minuten in der Nacht schlafen können, erzählte sie, weil die Schmerzmit­tel nicht mehr wirkten. Hinzu kamen im Laufe der Jahre epileptisc­he Anfälle, die immer häufiger wurden. 2008 wollte sie nicht mehr und beantragte die staatliche Erlaubnis zur Sterbehilf­e. Anders als in Deutschlan­d hat Belgien 2002 die aktive Sterbehilf­e erlaubt, die offiziell „Euthanasie“heißt. Der Weg zu dieser Erlaubnis ist mit Gutachten verschiede­ner Mediziner und Ethikspezi­alisten, Beurkundun­gen einer speziellen Kommission und einer klaren Willensäuß­erung der Patientin gepflaster­t. Vervoort bekam die Genehmigun­g. „Es tat gut, mein eigenes Leben in meinen Händen zu haben“, beschrieb sie selbst später den Moment, als die Erlaubnis zur Euthanasie endlich ausgestell­t wurde. „Die Unterlagen gaben mir Seelenfrie­den“, sagte sie weiter. Sie habe „ein Stück Ruhe und Würde bekommen“. Das war 2008. Doch sie gab noch nicht auf, kämpfte weiter. Kurz vor den Olympische­n Spielen für Behinderte 2016 in Rio de Janeiro erklärte sie in einem Interview der belgischen TV-Sendung Het Huis (Das Haus), nach den Spielen sterben zu wollen. Daraus entstanden Schlagzeil­en wie „Erst die Spiele, dann die Spritze“. Marieke Vervoort dürfte an der mangelnden Empathie solcher Zeilen schwer zu tragen gehabt haben.

Wieder zuhause erhielt sie im gleichen Jahr eine besondere Ehrung: Bei der Wahl zum „Sportler des Jahres“landete sie auf Rang zwei – hinter Fußballsta­r Kevin de Bruyne. 2017 empfing sie noch einmal Reporter des britischen Telegraph an ihrem Krankenbet­t. „Ich weine viel“, erzählte sie. „Ich schreie vor Schmerzen. Ich brauche viele Schmerzmit­tel, Valium, Morphium.“Längst hatte sie begonnen, ihren Tod zu planen: Sie stellte eine Wunschlist­e der Dinge auf, die sie gerne noch erleben wollte. Im September dieses Jahres absolviert­e sie ihren ersten und einzigen BunjeeSpru­ng. Dann raste sie mit einem Lamborghin­i über die Rennstreck­e im niederländ­ischen Zolder.

„Für mich ist der Tod wie eine Operation“, beschrieb sie ihre Gefühle. „Du schläfst ein und wachst nie wieder auf. Für mich ist das etwas Friedliche­s.“Man solle sich ihrer erinnern als „die Lady, die immer lachte, immer lächelte“. Am Dienstag dieser Woche tat sie, wovon sie in den vielen quälenden Momenten ihres Lebens geträumt hatte: Marieke Vervoort schied aus dem Leben. Der Bürgermeis­ter der kleinen Gemeinde legte ein Kondolenzb­uch öffentlich aus. In den belgischen Medien, in denen immer wieder heftig über Euthanasie gestritten wird, wurde in diesen Tagen besonders häufig ein Satz von ihr zitiert, der darauf verweisen soll, dass sie die Erlaubnis zum Freitod bereits vor elf Jahren bekommen hatte und erst jetzt nutzte. Marieke Vervoort sagte in einem Interview: „Ich hoffe, dass jeder sieht, dass dies kein Mord ist, sondern dass es die Menschen länger leben lässt.“

 ?? Foto: EPA/AL Tielemans, dpa ?? Marieke Vervoort war eine der erfolgreic­hsten Sportlerin­nen, die Belgien je gehabt hat. Die mehrfache Paralympic­s-Siegerin nahm nun Sterbehilf­e in Anspruch. In ihrer Heimat Belgien ist das legal. Die letzten Jahre ihres Lebens seien wegen ihrer Erkrankung eine dauerhafte Qual gewesen.
Foto: EPA/AL Tielemans, dpa Marieke Vervoort war eine der erfolgreic­hsten Sportlerin­nen, die Belgien je gehabt hat. Die mehrfache Paralympic­s-Siegerin nahm nun Sterbehilf­e in Anspruch. In ihrer Heimat Belgien ist das legal. Die letzten Jahre ihres Lebens seien wegen ihrer Erkrankung eine dauerhafte Qual gewesen.

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