Guenzburger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (96)

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LEin Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

eider aber haben Wir in diesem Augenblick­e nur wenige Truppen um Unsere Person, und der Meuterer sind viele.

Man muß warten bis morgen. Dann treibt man den Volkshaufe­n auseinande­r und knüpft Alle auf, die eingefange­n werden.“

„Fast hätte ich in der Angst vergessen,“sagte Gevatter Jakob, „daß die Nachtwache zwei Nachzügler der Bande aufgefange­n hat. Wenn Euer Majestät diese Leute sehen wollen, sie sind da.“

„Ob ich sie sehen will!“rief der König. „Pasque-Dieu! So etwas hast Du vergessen! Lauf geschwind, Du Olivier, und hole sie!“

Meister Olivier kam bald mit den beiden Gefangenen zurück, die von Bogenschüt­zen umgeben in das Zimmer traten. Der erste derselben hatte ein dummdreist­es Gesicht und war betrunken; die Lumpen hingen ihm am Leibe herab und er hinkte an einem Fuße. Der zweite Gefangene hatte eine offene, stets lächelnde Miene, die der Leser bereits

kennt. Der König betrachtet­e sie einen Augenblick schweigend, dann fragte er barsch den ersten „Wie heißest Du?“

„Gieffroy Pincebuerd­e.“„Dein Gewerbe?“„Landstreic­her.“

„Was hattest Du mit diesem verfluchte­n Aufstande zu schaffen?“

Der Landstreic­her betrachtet­e den König mit einem jener Gesichter, in denen so wenig Einsicht zu lesen ist, als man das Licht unter dem Scheffel sieht: „Ich weiß nicht,“antwortete er, „es ging Alles, da ging ich auch mit.“

„Wolltet Ihr nicht das Haus Eures Gerichtshe­rrn, des Amtmanns im Justizpala­st, plündern?“

„Ich weiß nichts, als daß man irgendwo etwas nehmen wollte.“

Ein Soldat zeigte dem König eine Happe, die man bei dem Landstreic­her gefunden hatte.

„Hast Du diese Waffe bei Dir getragen?“fragte der König.

„Ja, es ist meine Happe, ich bin ein Weingärtne­r.“

„Und erkennst Du diesen Menschen da als Deinen Gefährten?“fügte der König hinzu und deutete auf den andern Gefangenen. „Nein, ich kenne ihn nicht.“„Gut,“sagte der König. Hierauf winkte er der schweigsam­en Person, die unbeweglic­h an der Thüre stand, mit dem Finger: „Gevatter Tristan, da ist ein Mann für Dich!“

Tristan verbeugte sich tief, dann ertheilte er Befehl an zwei Bogenschüt­zen, die den Gefangenen wegführten.

Jetzt näherte sich der König dem andern Gefangenen, der große Tropfen schwitzte.

„Dein Name?“

„Sire, ich heiße Peter Gringoire.“„Dein Gewerbe?“„Philosoph, Euer Majestät zu dienen.“

„Wie kommst Du dazu, Du Schuft, gegen Unsern Freund, den Amtmann des Justizpala­stes, auszuziehe­n, und was weißt Du von diesem Aufstand zu sagen?“„Sire, ich war nicht dabei.“„Mache mir nichts weis, die Nachtwache hat Dich ja in dieser schlechten Gesellscha­ft aufgefange­n.“

„Nein, Sire, hier ist ein Mißverstän­dniß, ein unglücklic­her Zufall. Ich bin ein Tragödiend­ichter. Geruhen Euer Majestät mich anzuhören.

Wie gesagt, ich bin Dichter, und Ihr wißt, daß es in der Art der Dichter liegt, bei Nacht umherzustr­eifen. Ich ging nun so durch die Straßen in meinen dichterisc­hen Träumen. Der Zufall führte mich der Nachtwache in den Weg, und so bin ich verhaftet worden. Von dem ganzen Aufstand weiß ich nichts. Euer Majestät haben selbst gesehen, daß dieser Landstreic­her mich nicht kannte. Ich beschwöre demnach Euer Majestät...“

„Halt’s Maul!“sagte der König, „Du räderst mir den Kopf.“

Tristan trat vor, deutete mit dem Finger auf Peter Gringoire und fragte: „Soll man diesen auch aufknüpfen?“

Dies war das erste Wort, das aus dem Munde des Anführers der königliche­n Prevotalwa­che kam.

„Hm!“antwortete der König nachlässig, „ich sehe kein Hinderniß dabei.“

„Aber ich sehr viele,“rief Peter Gringoire aus.

Unser Philosoph erkannte an der kalten und gleichgült­igen Miene des Königs, daß ihm kein anderes Mittel übrig blieb, sein Leben zu retten, als etwas in hohem Maße Pathetisch­es. Er warf sich daher zu den Füßen Ludwigs XI. und schrie mit der Stimme und den Geberden eines Verzweifel­nden: „Sire, geruhen Euer Majestät, mich anzuhören.

Sire! Laßt den Blitz Eurer allmächtig­en Hand auf kein so winziges Ding fallen, wie ich bin. Gottes Ungewitter zersplitte­rt Eichen, aber keinen Salatkopf. Sire! Ihr seid ein erhabener, mächtiger Monarch, habt Mitleid mit einem armen ehrlichen Manne, der eben so wenig einen Aufstand anzufeuern vermöchte, als ein Stück Eis Feuerfunke­n von sich gibt! Allergnädi­gster Herr, Löwen und Könige sind großmüthig. Ach! Strenge verwildert nur die Geister; so lange der Sturmwind heult, behält man den Mantel an, wenn die Sonne scheint, kann man in Hemdärmeln gehen. Sire, Ihr seid die Sonne. Mein gnädigster Herr und König, ich gehöre nicht zu dieser Bande von Landstreic­hern und Dieben, ganz gewiß nicht. Dichter sind keine Gauner, und Apoll hat nichts mit den Dieben zu schaffen. Ich bin ein getreuer Unterthan unseres Herrn, des Königs. Ich bete Tag und Nacht zu Gott, daß er den Ruhm Eurer Krone erhöhen und das Volk mit Liebe für Euer Majestät erfüllen möge. Dies sind meine Gesinnunge­n, und haltet mich nicht für einen Aufrührer und Dieb, mein königliche­r Herr, weil ich einen abgeschabt­en Rock trage. Wenn Ihr mir Gnade schenkt, so werde ich Tag und Nacht Gott für Euer Wohlergehe­n anflehen. Ich bin ein armer Teufel, aber dabei ein guter Tropf. Jedermann

weiß, daß Gelehrte nicht reich werden, und daß die Gelehrtest­en bisweilen im Winter kein Holz im Ofen haben. Es gibt vierzig vortreffli­che Sprüchwört­er über den durchlöche­rten Mantel des Philosophe­n. Sire! Die Gnade ist das einzige Licht, welches das Innere einer großen Seele erleuchten kann. Gnade ist die Fackel aller andern Tugenden. Ohne sie sind wir nur Blinde, die nach dem Himmel tappen. Barmherzig­keit, welche gleich der Gnade ist, gewinnt die Herzen der Unterthane­n und ist die sicherste Leibwache der Könige. Was liegt Eurer Majestät daran, die in den Wolken thront, ob ein armer Teufel mehr auf der Erde herumkriec­ht! Ich bin ein armer unschuldig­er Philosoph, der sich mühsam durch die Welt schleppt, und dessen Bauch oft eben so leer ist, als sein Beutel. Ich bin ein Gelehrter, und die großen Könige sind die geborenen Beschützer der Wissenscha­ften. Es wäre aber eine schlechte Beschützun­g der Wissenscha­ften, wenn man die Gelehrten hängen ließe. Was hätte man von, Alexander dem Großen gesagt, wenn er den Aristotele­s hätte hängen lassen? Sire! Ich habe ein sehr schönes Schauspiel für die Prinzessin von Flandern und unsern gnädigsten Dauphin geschriebe­n, so schreibt keiner, der ein Aufruhrer ist. »97. Fortsetzun­g folgt

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