Guenzburger Zeitung

Die neuen Realitäten kommen aus dem Osten

Leitartike­l Wenn nicht mal mehr drei Parteien eine Mehrheit zusammenbe­kommen, fallen Tabus. Klar ist schon jetzt: Politik braucht mehr Bereitscha­ft zum Kompromiss

- VON CHRISTIAN GRIMM chg@augsburger-allgemeine.de

Seit nunmehr fast 30 Jahren gehören die neuen Länder zu den alten. Jetzt, eine Generation später, muss der Westen auf den Osten blicken, um seine eigene politische Zukunft zu sehen. Der abgehängte, kleine und ärmere Osten zeigt dem großen, reichen und dominanten Westen, wie sich das politische System entwickelt. Nicht in Gänze, aber doch in wesentlich­en Ausprägung­en. Die Stabilität des westdeutsc­hen Parteienge­füges ist Geschichte. Die Große Koalition in ihrem Leid ist seine letzte Zuckung.

In Thüringen lässt sich beobachten, wie zuletzt auch in Sachsen und Brandenbur­g, dass es schwierig wird, überhaupt eine Regierungs­mehrheit zusammenzu­zimmern. Durchregie­ren war gestern. Bündnisse aus drei Parteien werden die neue Realität. Minderheit­enkabinett­e

werden ernsthaft diskutiert, weil selbst drei Koalitions­partner manchmal nicht genügend Masse aufbringen. Flaggen afrikanisc­her Staaten müssen dafür herhalten, den Farbenspie­len einen Namen zu geben. Plötzlich ist die Thüringer CDU gezwungen, über eine Tolerierun­g einer Regierung der SEDNachfol­ger nachzudenk­en. Spitzenkan­didat Mike Mohring hat erklärt, das bislang Undenkbare tatsächlic­h zu tun. Den Wählern in Ostdeutsch­land wäre es übrigens recht. Je zwei Drittel derer, die für CDU oder Linke gestimmt haben, halten nichts davon, an alten Tabus festzuhalt­en. Der Thüringer CDU-Fraktionsv­ize wiederum kann sich sogar eine Zusammenar­beit mit der AfD vorstellen.

Während die CDU-Spitze im westdeutsc­h geprägten KonradAden­auer-Haus den Dammbruch irgendwie zu verhindern sucht, werden im Osten schon eifrig Löcher gebohrt. Die Wähler haben entschiede­n. Die Ostdeutsch­en haben nie eine so feste Bindung an die etablierte­n Parteien aufgebaut, wie sie sich in Westdeutsc­hland entwickelt hat. Die Kirchen haben nur wenig Bedeutung. Die Wähler wechseln viel schneller das Pferd, machen mal hier, mal dort ihr Kreuz. In einzelnen Großstädte­n im Ruhrgebiet haben mehr Menschen ein SPD-Parteibuch als in ganzen Landesverb­änden zwischen Ostsee und Erzgebirge. Freilich, die ehemaligen Volksparte­ien CDU und SPD bestimmten auch in den neuen

Ländern die Politik für lange Zeit. Die Abstürze der letzten Jahre sind aber brutaler.

Eine Besonderhe­it im Osten sind die Stärke der Linken und der AfD. Sie haben die Wut und den Frust aufgesogen, die sich aus der Verelendun­g der Ost-Wirtschaft und dem Exodus der Jungen gebildet haben. Anders als in den alten Ländern war die Linke, oder ihre Vorgängeri­n PDS, im Osten nie ein Paria. Sie zählt dort zur politische­n

Mitte, hat in vielen Landesregi­erungen Minister gestellt. Die AfD hat der Linken mittlerwei­le den Titel Ost-Partei entrissen, auch wenn der Erfolg Bodo Ramelows den Wachwechse­l überdeckt. Die Alternativ­e für Deutschlan­d profitiert dabei von zwei Gegebenhei­ten: Erstens sind die Vorurteile gegen Ausländer und Flüchtling­e größer. Zweitens reagieren Ostdeutsch­e allergisch­er, wenn Zeitungen und die Fernseh- und Radiosende­r nicht das ausspreche­n, was aus ihrer Sicht tatsächlic­h ist.

Auch in einigen West-Bundesländ­ern kommt die AfD schon auf über zehn Prozent. Weil der Migrations­druck auf Europa wegen der Krisen in Afrika und dem Nahen Osten hoch bleibt und die Integratio­n der Flüchtling­e schwierig wird, hat die AfD aber Chancen, ihre Ergebnisse zu steigern. Dann könnten auch in den alten Ländern die Debatten beginnen, die heute schon in den neuen geführt werden. Von den Politikern verlangt das mehr Kompromiss­bereitscha­ft und weniger Profilieru­ng. Die Lage wird unübersich­tlicher.

Ostdeutsch­e binden sich nicht so fest an eine Partei

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