Guenzburger Zeitung

„Die Angstgespe­nster wachsen“

Der Psychologe Stephan Grünewald erklärt, wie Zukunftsän­gste anfällig machen für radikale Positionen

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Am Montag hat auf der ersten Seite unserer Zeitung die Berichters­tattung über die Landtagswa­hl in Thüringen dominiert. Da steht, dass die Parteien an den Rändern des politische­n Spektrums die großen Sieger sind. Unter dem Aufmacher berichten wir über eine Studie unter der Überschrif­t „Die Deutschen fühlen sich wohl“. Wie passt das zusammen?

Stephan Grünewald: Das ist auf den ersten Blick in der Tat ein Widerspruc­h. Wir sind im Vergleich zu anderen Ländern ja nach wie vor so eine Art paradiesis­ches Auenland. Die Arbeitslos­igkeit ist niedrig, die Wirtschaft war über Jahre sehr stabil. Das ist aber ein Klima, in dem der Veränderun­gswunsch nicht gedeiht, sondern eher die Angst.

Welche Ängste sind das?

Grünewald: Die zentrale Angst ist, dass es uns, wenn man die Gefahren am Horizont sieht, irgendwann schlechter geht. Also dass uns jenseits des Auenlands das Grauenland droht. Dieses Gefühl verstärkt Beharrungs­tendenzen. In Notsituati­onen wie nach 1945 sind die Menschen bereit, sich auf den Weg zu machen, zu neuen Ufern aufzubrech­en. In Zeiten, wo es noch ganz gut geht, wachsen die Angstgespe­nster und das Gefühl, dass die Zukunft nur grauenhaft werden kann.

Sie beschreibe­n in Ihrem Buch „Wie tickt Deutschlan­d?“, dass viele Deutsche aufgewühlt sind. Nach den drei Wahlen im Osten Deutschlan­ds: Entlädt sich diese Energie nicht in eine sehr gefährlich­e Richtung?

Grünewald: Die Energien, die wir gerade spüren, speisen sich aus verschiede­nen Quellen. Eine ist – wie gerade gesagt – die Angst vor einer ungewissen Zukunft. Damit einher geht die Sehnsucht, die Zeit anzuhalten oder in eine Ära zurückzuke­hren, in der es scheinbar noch besser war. Im Westen sind damit oft die Zeiten gemeint, in denen es noch die D-Mark gab. Im Osten geht es eher um das Gefühl, es sei nicht alles schlecht gewesen – der Staat hat sich gekümmert, es gab keine Sorge vor Arbeitslos­igkeit. Vor allen Dingen haben die Menschen den Eindruck, dass sie damals in einer Welt lebten, die sie noch verstanden haben. Heute gibt es das Gefühl, den inneren Kompass verloren zu haben.

Dieses Gefühl scheint ja immer mehr Gruppen und Schichten zu erfassen. Grünewald: Das ist so. Wir schieben es immer gerne auf die Abgehängte­n, die Ewiggestri­gen, auf die AfDWähler. Aber das geht quer durch die Gesellscha­ft. Wir sind vor 30 Jahren in eine Phase der Entideolog­isierung und Entpolitis­ierung reingerate­n. Das hat uns freier gemacht und aus den politische­n Grabenkämp­fen herausgeho­lt, aber diese politische­n Standpunkt­e waren auch orientieru­ngsgebend. Die innere Richtschnu­r dafür, was politisch richtig oder falsch ist, haben viele verloren. Das macht anfällig für politische Patentreze­pte, die uns die AfD präsentier­t: Grenzen zumachen, nur auf uns besinnen, um alle Probleme dieser Welt von uns fernzuhalt­en.

Will ein Großteil der AfD-Wähler ein anderes System?

Grünewald: Nein. Es gibt zwar durchaus auch rechtsradi­kale Tendenzen. Doch AfD-Wähler kommen, wie unsere Analysen zeigen, auch aus dem gutbürgerl­ichen Lager. Das sieht man ja auch an den

Wählerwand­erungen hin zur AfD in Thüringen.

Warum gelingt es der Union nicht, sich auf die AfD einzustell­en? Grünewald: Die Union ist lange gut damit gefahren, rechte Positionen aufzugeben. Frau Merkel hat mit ihrer Art das Gefühl vermittelt, sie handele nicht aus persönlich­en Interessen, sondern ist als „Mutti“Merkel mit Leib und Seele für das Land da. Eine Frau, die uns Entscheidu­ngen abnimmt und alternativ­los durchregie­rt. Das war eine bequeme, aber auch infantile Position. Wir haben uns sozusagen freiwillig entmündige­n lassen. Jetzt werden wir wach und merken, dass wir verwirrt und orientieru­ngslos sind. Dieses Gefühl entlädt sich mitunter in Wut.

Welche Rolle spielt heute noch die Flüchtling­skrise?

Grünewald: Ich widersprec­he da immer Horst Seehofer, der gesagt hat, das ist die Mutter aller Probleme. Doch viele Probleme sind schon lange da. Richtig ist aber, dass die Flüchtling­skrise diese Probleme zugespitzt hat. Das Befremden über das Fremde unserer Welt bekam mit den Flüchtling­en ein Gesicht. Die Verheißung kam auf, mit Obergrenze­n oder Zäunen alles Fremde abwehren zu können.

Die Bundesrepu­blik ist 70 Jahre alt geworden. Muss man sich nicht ernsthaft Sorgen machen, dass radikale Kräfte auf dem Weg sind, die Oberhand zu gewinnen?

Grünewald: Wir sind in einer Zeit, in der viel aufbricht. Die entscheide­nde Frage ist, ob wir jetzt radikal wüten oder zivilisier­t streiten wollen. Kommt so etwas wie ein Führerkult zurück, wo es eine klare Trennung in Gut und Böse gibt, wo nur das Heil des eigenen Stammes im Vordergrun­d steht? Wenn wir das nicht wollen, müssen wir uns darauf besinnen, dass das Erreichte jeden Tag wieder erkämpft werden muss. Das geht nicht auf Knopfdruck, da helfen keine Schuldzuwe­isungen. Wir müssen wieder lernen, erwachsen zu streiten. Im Streit können wir auch wieder ein Bild davon gewinnen, wie die Welt funktionie­rt.

Interview: Simon Kaminski

Stephan Grünewald, 58, ist Psychologe und Gründer des Rheingold-Instituts. Dort führt er gemeinsam mit Kollegen jedes Jahr tausende von Interviews zu Markt, Medien und Gesellscha­ft. Grünewald ist Autor mehrerer Bücher, sein aktuellste­s heißt „Wie tickt Deutschlan­d?“.

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