Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (99)
Jakob Coppenole, mit seiner bürgerlichen Ruhe und Festigkeit, trat zum König an’s Fenster und sagte: „Hört einmal, Sire! Es sind hier feste Mauern, ein Glockenthurm, Kanonen, Bürger, Soldaten. Wenn die Glocken stürmen, die Kanonen donnern, Bürger und Soldaten unter Wuthgeschrei sich niedermachen, wenn die Mauern stürzen werden, dann schlägt die Stunde.“
Das Gesicht des Königs wurde düster und träumend. Er schwieg einen Augenblick, dann klopfte er mit dem Finger an die dicke Mauer des Thurmes und sagte: „Oh, nein! Nicht wahr, du fällst nicht so leicht ein, meine gute Bastille?“
Hierauf wendete er sich gegen den kecken Flamänder: „Habt Ihr schon einen Aufstand gesehen, Meister Jakob?“
„Nicht nur gesehen, sondern selbst gemacht,“erwiederte der Strumpfweber.
„Wie greift Ihr es an, um einen Aufstand zu machen?“fragte der König.
„Hm!“antwortete der Strumpfweber, „das ist ziemlich leicht, und man kann es auf hunderterlei Art anfangen. Vor allen Dingen ist erforderlich, daß das Volk mißvergnügt sei. Das ist nichts Seltenes. Dann muß man auf den Charakter der Einwohner Rücksicht nehmen. Die Einwohner von Gent sind leicht zum Aufstand zu bringen. Sie lieben immer den Nachfolger des Fürsten, den Fürsten nie. Je nun, ich will annehmen, es kommen eines Morgens Leute in meine Werkstätte und sagen: Vater Coppenole, da und dort fehlt es, es wird schlecht regiert, die Minister thun was sie wollen, und von oben herab läßt man sie machen. Es muß anders werden, und so und so könnte man helfen. –- Da lasse ich nun meine Arbeit liegen, gehe aus meinem Laden auf die Straße und rufe: Bürger heraus! Dann steige ich auf einen Tisch, auf einen Stuhl oder auf ein Faß, rede von der Leber weg und sage, was mir und den Anderen auf dem Herzen liegt. Das geht dann auch zu
Herzen, und das Volk glaubt Einem der auch zum Volke gehört. Jetzt laufen immer mehr Leute zusammen, man schreit, läutet die Sturmglocke, die Marktleute schließen sich an den Haufen an, man stürzt auf die Soldaten und reißt ihnen die Waffen aus den Händen, dann ist es geschehen. Und so wird es immer sein, so lange es Edelleute in ihren Herrschaften, Bürger in den Städten und Bauern auf dem Lande gibt.“
„Und gegen wen empört Ihr Euch auf solche Art? Gegen Eure Edelleute und Gerichtsherren?“
„Bisweilen, wie es gerade kommt; manchmal auch gegen den Herzog selbst.“
Der König setzte sich und sagte lächelnd: „Ah! hier zu Lande sind sie erst an den Edelleuten!“
In diesem Augenblicke trat Meister Olivier in das Zimmer. Zwei Pagen mit der Toilette des Königs folgten ihm. Was aber den König in Verwunderung setzte, war, daß auch der Prevot von Paris und der Anführer der nächtlichen Runden eintraten, und daß diese Beiden sehr bestürzt schienen. Der giftige Barbier gab sich auch das Ansehen, als ob er bestürzt sei, aber er konnte seine innere Freude nicht ganz verbergen.
Meister Olivier nahm zuerst das Wort und sagte in heuchlerischem Tone: „Sire, ich bitte Euer Majestät um Verzeihung, daß ich der Ueberbringer einer so schlimmen Nachricht sein muß.“
Der König wendete sich schnell gegen ihn:
„Was will das heißen?“„Sire,“fuhr Meister Olivier mit dem bösartigen Gesicht eines Menschen fort, der sich freut, eine üble Nachricht bringen zu können, „Sire, dieser Aufstand ist nicht gegen den Gerichtsherrn des Justizpalastes gerichtet.“
„Und gegen wen sonst?“„Gegen Euch, Sire!“
Der alte König fuhr in die Höhe und stand gerade und aufrecht wie ein Jüngling: „Erkläre Dich, Olivier! Erkläre Dich näher! Und nimm Deinen Kopf wohl in Acht, Gevatter, denn ich schwöre Dir bei dem heiligen Kreuze von Saint-Lo, wenn Du zu dieser Stunde gelogen hast, so ist das Schwert, unter dem das Haupt des Herzogs von Luxemburg gefallen, noch scharf genug, Dir Deinen Kopf abzuschlagen!“
Das war ein furchtbarer Schwur, denn Ludwig XI. hatte nur zweimal in seinem Leben beim heiligen Kreuze von Saint- Lo geschworen. Meister Olivier öffnete den Mund, um zu antworten: „Sire …“
„Auf die Kniee nieder!“unterbrach ihn der König heftig, „Tristan! Habe ein Auge auf diesen Menschen.“
Der Barbier kniete nieder und sagte kalt: „Sire, eine Hexe ist durch Parlaments-Beschluß zum Tode verurtheilt worden. Sie hat sich in die Liebfrauenkirche geflüchtet. Das Volk will sie von dort mit Gewalt entführen! Hier stehen der Prevot und der Offizier der Nachtwache, die von dem Orte des Aufstandes kommen, und sie sollen mich Lügen strafen, wenn ich nicht die Wahrheit geredet habe. Die Liebfrauenkirche ist es, was das Volk belagert.“
„Ei da!“sagte der König, blaß und zitternd vor Zorn, mit gedämpfter Stimme. „Unsere liebe Frau! Sie belagern unsere liebe Frau, meine Fürbitterin bei Gott, in ihrer eigenen Kirche! Steh auf, Olivier! Du hast Recht. Du sollst die Stelle von Simon Radin haben. Du Hast ganz Recht. Der Aufstand ist gegen mich gerichtet. Die Hexe ist unter dem Schutze der Kirche, die Kirche unter meinem Schutz. Der Aufstand ist nicht gegen den Amtmann des Justizpalastes gerichtet.“
Durch den Zorn verjüngt, ging er jetzt mit großen Schritten hastig auf und ab. Er lachte nicht mehr, er war furchtbar, ging und kam, der Fuchs hatte sich in einen Tiger verwandelt. Seine Lippen bewegten sich, aber die Stimme versagte ihm; er ballte die Fäuste. Plötzlich erhob er das Haupt, ein feuriger Blitz entströmte seinen hohlen Augen und er schrie mit donnernder Stimme: „Nieder mit ihnen, Tristan! Nieder mit diesen Schurken! Fort, Tristan! Spute Dich, haue Alles zusammen!“
Nachdem dieser erste Sturm vorüber war, setzte sich der König und sagte mit verbissener Wuth: „Hieher, Tristan! Tritt zu mir! Es sind hier in dieser Bastille um Unsere Person die fünfzig Lanzen des Vicomte von Gif; das macht im Ganzen dreihundert Pferde. Nimm sie! Es ist ferner hier die Compagnie der Bogenschützen des Herrn von Chateaupers. Nimm sie! Du bist Prevot der Marechaussée, nimm Deine Leute! Im Palast Saint-Pol wirst Du fünfzig Bogenschützen von der neuen Garde des Dauphin finden. Nimm sie! Wenn Du Alles beisammen hast, so stürze Dich auf den Volkshaufen, der die Liebfrauenkirche belagert. Ah! Ihr Herren Einwohner von Paris, ihr wagt es, gegen die Krone von Frankreich, gegen die Heiligkeit unserer lieben Frau und gegen den Frieden dieses Reichs aufzustehen! Nieder mit ihnen, Tristan! Nieder mit ihnen! Und daß Keiner von ihnen entkomme, hörst Du!“
Tristan verbeugte sich: „Ganz wohl, Sire!“
„Und was soll ich mit der Hexe machen?“fragte er nach einer Pause. »100. Fortsetzung folgt