Guenzburger Zeitung

BGH kippt Urteil zum Pflegebetr­ug

Fall aus Kreis Günzburg wird neu verhandelt

- VON ALEXANDER SING

Krumbach Muss eine Familie, die schnell einen Pfleger braucht, sich darum kümmern, dass der auch bei der Sozialvers­icherung angemeldet ist? Oder ist das Sache derjenigen, die die Pflegekraf­t vermittelt haben? Diese Frage beschäftig­te vor einigen Jahren die Justiz, Auslöser war ein Fall aus dem Landkreis Günzburg. Es wurde auch eine Entscheidu­ng getroffen – doch die ist nun hinfällig. Denn jetzt gibt es ein Urteil, das große Auswirkung­en auf die künftige Rechtsprec­hung bei Sozialvers­icherungsb­etrug haben könnte.

Der 1. Strafsenat des Bundesgeri­chtshofs (BGH) in Karlsruhe hat ein Urteil gegen einen Pflegedien­stvermittl­er aus dem Landkreis Günzburg in Teilen aufgehoben. Der heute 72-Jährige war im November 2017 zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Ihm war Beihilfe zum Sozialvers­icherungsb­etrug in mehr als 2000 Fällen vorgeworfe­n worden. Über seine Agentur vermittelt­e er Pflegekräf­te aus Osteuropa an Familien in ganz Süddeutsch­land. Sozialvers­icherungsb­eiträge für diese Beschäftig­ungen

Vermeintli­cher Schaden von 2,7 Millionen Euro

flossen jedoch keine, sodass den Kassen ein Schaden von rund 2,7 Millionen Euro entstand.

Eine Große Strafkamme­r des Landgerich­ts Augsburg nahm über ein Jahr lang insgesamt 82 Fälle unter die Lupe und kam zu dem Schluss, dass der Unternehme­r die Not von Familien ausgenutzt hatte, die dringend eine Pflegekraf­t benötigten. Die Familien wären als Arbeitgebe­r der Frauen verpflicht­et gewesen, Beiträge abzuführen. Den meisten war das aber nicht bewusst. Sie waren dankbar für die schnelle Hilfe. „Er wusste genau, dass die Pflegekräf­te in der Regel nicht angemeldet werden“, sagte die Vorsitzend­e Richterin Dorothee Singer in der Urteilsbeg­ründung. Nur so habe der Mann so schnell und günstig Pflegekräf­te vermitteln können.

Doch nun scheint sich der Vorwurf in Luft aufzulösen. Die Anklage fußte darauf, dass die unbedarfte­n Familien als Arbeitgebe­r die Haupttäter waren. Die Verfahren gegen sie wurden wegen Geringfügi­gkeit eingestell­t. Der Vermittler wurde wegen Beihilfe verurteilt. Der Beschluss des BGH eröffnet jetzt die Möglichkei­t, dass die Familien sich womöglich gar nicht strafbar gemacht haben.

Wie der Rechtsanwa­lt des Pflegedien­stvermittl­ers, Hansjörg Schmid, erklärte, habe der BGH seine über zwei Jahrzehnte lang geltende Rechtsprec­hung hierzu offenbar geändert. „Es ist der bundesweit erste Fall, bei dem das zum Tragen kommt“, sagte Schmid. So könnten die Familien, die sich ihrer Stellung als Arbeitgebe­r nicht bewusst waren und deshalb unabsichtl­ich Sozialvers­icherungsb­eiträge vorenthalt­en haben, zu Unrecht als Haupttäter angeklagt worden sein. Laut BGH hätten die Familien zumindest in einigen Fällen die Lage nicht erkennen können und daher straffrei davonkomme­n müssen. Die Staatsanwa­ltschaft hätte sie erst gar nicht anklagen dürfen. Das gilt auch für die angeklagte Beihilfe. Das Landgerich­t Augsburg muss nun eine andere Kammer damit betrauen, den Fall zum Teil wieder aufzurolle­n und die neue Rechtsprec­hung umzusetzen.

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