BGH kippt Urteil zum Pflegebetrug
Fall aus Kreis Günzburg wird neu verhandelt
Krumbach Muss eine Familie, die schnell einen Pfleger braucht, sich darum kümmern, dass der auch bei der Sozialversicherung angemeldet ist? Oder ist das Sache derjenigen, die die Pflegekraft vermittelt haben? Diese Frage beschäftigte vor einigen Jahren die Justiz, Auslöser war ein Fall aus dem Landkreis Günzburg. Es wurde auch eine Entscheidung getroffen – doch die ist nun hinfällig. Denn jetzt gibt es ein Urteil, das große Auswirkungen auf die künftige Rechtsprechung bei Sozialversicherungsbetrug haben könnte.
Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) in Karlsruhe hat ein Urteil gegen einen Pflegedienstvermittler aus dem Landkreis Günzburg in Teilen aufgehoben. Der heute 72-Jährige war im November 2017 zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt worden. Ihm war Beihilfe zum Sozialversicherungsbetrug in mehr als 2000 Fällen vorgeworfen worden. Über seine Agentur vermittelte er Pflegekräfte aus Osteuropa an Familien in ganz Süddeutschland. Sozialversicherungsbeiträge für diese Beschäftigungen
Vermeintlicher Schaden von 2,7 Millionen Euro
flossen jedoch keine, sodass den Kassen ein Schaden von rund 2,7 Millionen Euro entstand.
Eine Große Strafkammer des Landgerichts Augsburg nahm über ein Jahr lang insgesamt 82 Fälle unter die Lupe und kam zu dem Schluss, dass der Unternehmer die Not von Familien ausgenutzt hatte, die dringend eine Pflegekraft benötigten. Die Familien wären als Arbeitgeber der Frauen verpflichtet gewesen, Beiträge abzuführen. Den meisten war das aber nicht bewusst. Sie waren dankbar für die schnelle Hilfe. „Er wusste genau, dass die Pflegekräfte in der Regel nicht angemeldet werden“, sagte die Vorsitzende Richterin Dorothee Singer in der Urteilsbegründung. Nur so habe der Mann so schnell und günstig Pflegekräfte vermitteln können.
Doch nun scheint sich der Vorwurf in Luft aufzulösen. Die Anklage fußte darauf, dass die unbedarften Familien als Arbeitgeber die Haupttäter waren. Die Verfahren gegen sie wurden wegen Geringfügigkeit eingestellt. Der Vermittler wurde wegen Beihilfe verurteilt. Der Beschluss des BGH eröffnet jetzt die Möglichkeit, dass die Familien sich womöglich gar nicht strafbar gemacht haben.
Wie der Rechtsanwalt des Pflegedienstvermittlers, Hansjörg Schmid, erklärte, habe der BGH seine über zwei Jahrzehnte lang geltende Rechtsprechung hierzu offenbar geändert. „Es ist der bundesweit erste Fall, bei dem das zum Tragen kommt“, sagte Schmid. So könnten die Familien, die sich ihrer Stellung als Arbeitgeber nicht bewusst waren und deshalb unabsichtlich Sozialversicherungsbeiträge vorenthalten haben, zu Unrecht als Haupttäter angeklagt worden sein. Laut BGH hätten die Familien zumindest in einigen Fällen die Lage nicht erkennen können und daher straffrei davonkommen müssen. Die Staatsanwaltschaft hätte sie erst gar nicht anklagen dürfen. Das gilt auch für die angeklagte Beihilfe. Das Landgericht Augsburg muss nun eine andere Kammer damit betrauen, den Fall zum Teil wieder aufzurollen und die neue Rechtsprechung umzusetzen.