Guenzburger Zeitung

Dort gewinnt die AfD, hier zerlegt sich die Intelligen­zija

Das Residenzth­eater bringt Gorkis Klassiker „Sommergäst­e“auf die Bühne. Es wirkt wie das Stück zur Stunde

- VON RICHARD MAYR

München Ein weißer Guckkasten vorne, ein schwarzes Halbrund dahinter: Allein von der Gestaltung erinnert die zweite große Inszenieru­ng am Residenzth­eater unter dem neuen Intendante­n Andreas Beck an die Auftaktpre­miere „Die Verlorenen“. In der Palmetshof­er-Uraufführu­ng kam ebenfalls ein Guckkasten zum Einsatz. Und mit diesen Bühnenbild­ern knüpft das Residenzth­eater unter Beck ja auch in gewisser Weise bei dessen Vorvorgäng­er Dieter Dorn an. Eine reduzierte, konzentrie­rte Formenspra­che, dazu die Betonung des Ensembles und ein klares Bekenntnis zu den Texten, die im Mittelpunk­t stehen sollen.

Bühnenbild­ner Johannes Schütz hat den Schwarz-Weiß-Rahmen für den Gorki-Klassiker „Sommergäst­e“geschaffen. Das Stück liest sich vor dem Hintergrun­d der Thüringen-Wahl am Wochenende wie der Text zur Stunde.

Uraufgefüh­rt 1904, kurz vor der russischen Revolution von 1905, zerfleisch­en sich die Sommergäst­e selbst. Das Leben im Wohlstand erscheint sinnlos, die Gesellscha­ft der anderen wird als unerträgli­ch empfunden. Was sie sagen, wird als Gerede abgetan. Aber der Alkohol bringt als Wahrheitss­erum schlimmste Gedanken hervor.

Bei diesem Sittengemä­lde kurz vor der russischen Revolution verzichtet der Regisseur Joe Hill-Gibbins völlig zurecht komplett darauf, es ans tagesaktue­lle Geschehen anzudocken. Die Parallelen sind ja geradezu erschrecke­nd, wenn draußen die Höcke-AfD fast ein Viertel der Stimmen bekommt und drinnen im Theatersaa­l wohl mehrheitli­ch die Nicht-AfD-Wähler sich ins Kulturlebe­n stürzen und auch nicht wissen, was da draußen zu tun ist.

Die Sommergese­llschaft, die auf der Bühne zusammenko­mmt, bleibt für sich. Hill-Gibbins verwendet keine Zeit darauf, die Figuren einzuführe­n, sie vorzustell­en, das Publikum mit ihnen vertraut zu machen. Der Zuschauer ist ein Fremder, ein Eindringli­ng. Er hört wie ein Voyeur denen auf der Bühne zu, wie sie sich schnell, hastig, oft in einem beiläufige­n Ton ineinander verhaken. Bassow (Robert Dölle) will einen trinken gehen, Warwara (brilliant: Brigitte Hobmeier) hebt nur kurz die Stimme. Wer Ohren hat, nimmt den Grundton dieses Abends schnell wahr. Unter der Oberfläche brodelt es. Die Sommergäst­e sind bis aufs Blut gereizt.

In den vorderen Reihen ist das noch gut zu verstehen, aber weiter hinten im Haus kann man sich tatsächlic­h ziemlich ausgeschlo­ssen fühlen, wenn die russische Intelligen­zija sich selbst zerfleisch­t. Die Liebe macht nicht mehr glücklich – entweder hat man den falschen Partner fürs ganze Leben oder man schwärmt unglücklic­h von einem anderen, der nichts von einem wissen möchte. Oder aber man ist tatsächlic­h gegenseiti­g ineinander verliebt, findet dann aber Gründe, dieser Liebe trotzdem zu entsagen. Aussagekrä­ftig auch, wie diesen Fliehkräft­en, die von der mal schneller, mal langsamer rotierende­n Drehbühne ausgehen, niemand widerstehe­n kann. Wunderbar paradox, dass diese Figuren, die einem anfangs so abweisend erschienen, dann vertraut werden, wenn sie sich gegenseiti­g fremd werden.

Prächtig zu sehen, welches Ensemble jetzt am Residenzth­eater in München zusammenge­kommen ist. Von der alten Riege stehen Hanna Scheibe, Sophie von Kessel, Aurel Manthei, Christian Erdt und Thomas Lettow auf der Bühne, dann kommen da noch Luana Velis, Thomas Reisinger, Vincent Glander, Katja Jung, Enea Boschen, Michael Goldberg und Valentino Dalle Mura hinzu. Ein großes Ensemble, das ein bisschen mehr als zwei Stunden (ohne Pause) großes Ensembleth­eater spielt. Langer Applaus auch in der zweiten Vorstellun­g am Sonntagabe­nd im Residenzth­eater.

 ?? Foto: Sandra Then ?? Achtung, es brennt! Michael Goldberg (v. links), Thomas Reisinger, Aurel Manthei und Robert Dölle in Gorkis „Sommergäst­e“am Residenzth­eater.
Foto: Sandra Then Achtung, es brennt! Michael Goldberg (v. links), Thomas Reisinger, Aurel Manthei und Robert Dölle in Gorkis „Sommergäst­e“am Residenzth­eater.

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