Dort gewinnt die AfD, hier zerlegt sich die Intelligenzija
Das Residenztheater bringt Gorkis Klassiker „Sommergäste“auf die Bühne. Es wirkt wie das Stück zur Stunde
München Ein weißer Guckkasten vorne, ein schwarzes Halbrund dahinter: Allein von der Gestaltung erinnert die zweite große Inszenierung am Residenztheater unter dem neuen Intendanten Andreas Beck an die Auftaktpremiere „Die Verlorenen“. In der Palmetshofer-Uraufführung kam ebenfalls ein Guckkasten zum Einsatz. Und mit diesen Bühnenbildern knüpft das Residenztheater unter Beck ja auch in gewisser Weise bei dessen Vorvorgänger Dieter Dorn an. Eine reduzierte, konzentrierte Formensprache, dazu die Betonung des Ensembles und ein klares Bekenntnis zu den Texten, die im Mittelpunkt stehen sollen.
Bühnenbildner Johannes Schütz hat den Schwarz-Weiß-Rahmen für den Gorki-Klassiker „Sommergäste“geschaffen. Das Stück liest sich vor dem Hintergrund der Thüringen-Wahl am Wochenende wie der Text zur Stunde.
Uraufgeführt 1904, kurz vor der russischen Revolution von 1905, zerfleischen sich die Sommergäste selbst. Das Leben im Wohlstand erscheint sinnlos, die Gesellschaft der anderen wird als unerträglich empfunden. Was sie sagen, wird als Gerede abgetan. Aber der Alkohol bringt als Wahrheitsserum schlimmste Gedanken hervor.
Bei diesem Sittengemälde kurz vor der russischen Revolution verzichtet der Regisseur Joe Hill-Gibbins völlig zurecht komplett darauf, es ans tagesaktuelle Geschehen anzudocken. Die Parallelen sind ja geradezu erschreckend, wenn draußen die Höcke-AfD fast ein Viertel der Stimmen bekommt und drinnen im Theatersaal wohl mehrheitlich die Nicht-AfD-Wähler sich ins Kulturleben stürzen und auch nicht wissen, was da draußen zu tun ist.
Die Sommergesellschaft, die auf der Bühne zusammenkommt, bleibt für sich. Hill-Gibbins verwendet keine Zeit darauf, die Figuren einzuführen, sie vorzustellen, das Publikum mit ihnen vertraut zu machen. Der Zuschauer ist ein Fremder, ein Eindringling. Er hört wie ein Voyeur denen auf der Bühne zu, wie sie sich schnell, hastig, oft in einem beiläufigen Ton ineinander verhaken. Bassow (Robert Dölle) will einen trinken gehen, Warwara (brilliant: Brigitte Hobmeier) hebt nur kurz die Stimme. Wer Ohren hat, nimmt den Grundton dieses Abends schnell wahr. Unter der Oberfläche brodelt es. Die Sommergäste sind bis aufs Blut gereizt.
In den vorderen Reihen ist das noch gut zu verstehen, aber weiter hinten im Haus kann man sich tatsächlich ziemlich ausgeschlossen fühlen, wenn die russische Intelligenzija sich selbst zerfleischt. Die Liebe macht nicht mehr glücklich – entweder hat man den falschen Partner fürs ganze Leben oder man schwärmt unglücklich von einem anderen, der nichts von einem wissen möchte. Oder aber man ist tatsächlich gegenseitig ineinander verliebt, findet dann aber Gründe, dieser Liebe trotzdem zu entsagen. Aussagekräftig auch, wie diesen Fliehkräften, die von der mal schneller, mal langsamer rotierenden Drehbühne ausgehen, niemand widerstehen kann. Wunderbar paradox, dass diese Figuren, die einem anfangs so abweisend erschienen, dann vertraut werden, wenn sie sich gegenseitig fremd werden.
Prächtig zu sehen, welches Ensemble jetzt am Residenztheater in München zusammengekommen ist. Von der alten Riege stehen Hanna Scheibe, Sophie von Kessel, Aurel Manthei, Christian Erdt und Thomas Lettow auf der Bühne, dann kommen da noch Luana Velis, Thomas Reisinger, Vincent Glander, Katja Jung, Enea Boschen, Michael Goldberg und Valentino Dalle Mura hinzu. Ein großes Ensemble, das ein bisschen mehr als zwei Stunden (ohne Pause) großes Ensembletheater spielt. Langer Applaus auch in der zweiten Vorstellung am Sonntagabend im Residenztheater.