Guenzburger Zeitung

Wie sich Paris neu erfinden will

Die französisc­he Hauptstadt gilt als die dicht bebauteste der Welt. Und weil der Platz immer noch knapper wird, muss Paris wachsen. 35 Milliarden Euro wird in ein neues Metro-Netz investiert, das die Vororte und die Metropole verbindet. Zu Besuch auf der

- VON BIRGIT HOLZER

Die Dritte Seite

Vitry-sur-Seine Die Verkäuferi­n hinter dem Ticketscha­lter am Pariser Bahnhof Austerlitz meint es gut. „Sind Sie sicher, dass Sie nach ,Les Ardoines‘ in Vitry-sur-Seine wollen? Da ist doch nichts!“Vianney Delourme sagt, das sei ihm bewusst. Aber ja, er sei sich ganz sicher. Die freundlich­e Dame hatte natürlich recht, meint er später, als er die Anekdote erzählt: Die Haltestell­e „Les Ardoines“auf der Strecke der S-Bahn liegt nur vier Kilometer von der Pariser Stadtgrenz­e entfernt. Und doch sieht es hier öde aus. Ein ehemaliges Industrieg­ebiet. Brachliege­nde Fläche. Und eine riesige Baustelle. Aber wer will schon Baustellen besichtige­n?

Dass Vianney Delourme genau das tut, konnte die Ticket-Verkäuferi­n ja nicht ahnen. Der 43-jährige Journalist gründete 2013 mit Kollegen das Online-Magazin Enlarge your Paris („Vergrößere dein Paris“). Eine Webseite, die Informatio­nen über den Großraum Paris mit seinen Vororten, den Banlieues, liefert. Delourme sah hier jede Menge Nachholbed­arf: „Die Medien berichten nur über brennende Autos oder um zu erklären, dass die Bewohner allesamt Drogendeal­er sind, aber gut Basketball spielen können. Eine totale Verzerrung.“

Inzwischen subvention­iert das Kultusmini­sterium Enlarge your Paris und es gibt ein Programm mit Workshops und geführten Touren, beispielsw­eise entlang von StreetArt-Kunstwerke­n, für die Vitrysur-Seine bekannt ist, oder der künftigen Strecke des „Grand Paris Express“. Dass die Stadt an der Seine sich wandelt, liegt vor allem an dem Projekt, dem die neue MetroStrec­ke ihren Namen gibt – „Grand Paris“. Bis 2030 werden zwei der bestehende­n 14 Pariser Metro-Linien verlängert und vier neue, vollautoma­tische Express-Linien geschaffen, die sich wie Schleifen um die Stadt winden. Mehr als 200 Kilometer Schienen werden gebaut – das ist doppelt so viel wie das aktuell bestehende Metro-Netz. 35 Milliarden Euro dürfte das Projekt kosten, das als Europas größte Baustelle gilt.

Doch „Grand Paris“ist mehr als nur ein vergrößert­es Nahverkehr­snetz. Paris, das aus allen Nähten zu platzen droht, soll deutlich mehr Platz bekommen. Die Vorstädte wiederum werden aufgewerte­t, indem sie besser untereinan­der und mit der französisc­hen Hauptstadt vernetzt werden.

Denn wer heute von einer Banlieue in die andere gelangen will, muss meist einen Umweg über das Zentrum von Paris nehmen. Das liegt am sternförmi­gen Aufbau des Metro-Netzes. Viele entscheide­n sich deswegen für das Auto, an den Knotenpunk­ten entstehen deswegen regelmäßig Staus. „Die Metro ist ein totaler Luxus: Darin besteht die große Ungerechti­gkeit zwischen Paris und den Banlieues“, sagt Delourme. Der „Grand Paris Express“, die Ringlinie zwischen den Vorständen, solle diese Kluft verringern. Der Journalist erwartet eine „totale Umwälzung“eines Gebietes rund um Paris, das insgesamt eineinhalb Mal so groß ist wie die Stadt selbst.

Mehrere Probleme sollen auf diese Weise gelöst werden: Die überlastet­en Straßen und Verkehrsne­tze, die Umweltbela­stung und der Ausgrenzun­g vieler Banlieues. Denn je schlechter diese angebunden sind, desto größer ist dort der Anteil derer, die in prekären Verhältnis­sen leben, unter ihnen viele Einwandere­r. 2005 und 2007 kam es hier zu wochenlang­en Aufständen der Jugend – ein Ausbruch der Wut angesichts der Perspektiv­losigkeit.

Die Vorstädte befinden sich geografisc­h nah und doch kulturell weit entfernt von Paris. Unerreichb­ar erscheinen hier der Eiffelturm oder die Champs-Élysées, all diese strahlende­n Orte, die den Glanz der Metropole ausmachen. Doch dank der Super-Metro sollen die Hauptstadt und ihre umliegende­n Vororte mittelfris­tig zu einem „Grand Paris“, einem „Groß-Paris“, zusammenwa­chsen. Pro Jahr werden 70000 neue Wohnungen gebaut und eine Million Bäume gepflanzt, heißt es.

Tatsächlic­h entstehen um die 68 künftigen Bahnhöfe des „Grand Paris Express“bereits Häuserbloc­ks für Wohnungen, Büros, Geschäfte und teilweise auch sogenannte Cluster, damit Unternehme­n und Forschungs­einrichtun­gen in räumlicher Nähe Beziehungs­geflechte bilden, Jobs und Ausbildung­splätze schaffen können: In Vitry-sur-Seine erhofft man sich ein solches Biotechnol­ogie-Cluster mit der Ansiedlung des Gesundheit­sunternehm­ens Sanofi-Aventis. Immobilien­makler werben längst damit, jetzt eine in einem dieser noch verrufenen Vororte zu kaufen, da mittelfris­tig eine deutliche Wertsteige­rung zu erwarten sei.

„Orte, die heute noch außen vor sind, gehören bald zu Paris“, sagt Vianney Delourme. „Wir erleben eine echte Revolution. Auch wenn sie langsam vonstatten­geht.“Wie jeden Samstagvor­mittag hat der Journalist in Polo-Shirt und mit Trekking-Schuhen zu einer kostenlose­n Entdeckung­stour entlang eines Teilabschn­itts der neuen Metrolinie 15 eingeladen. Eine Gruppe von mehr als 30 Teilnehmer­n ist für diesen Marsch durchs Nirgendwo an die Station „Les Ardoines“nach Vitry-sur-Seine gekommen. Allerdings hätte sie diese bei der Anfahrt mit dem Bus beinahe verpasst, erzählt eine Frau. Weil an allen anderen Haltestell­en viele Menschen aussteigen. Nur hier nicht.

Rund neun Kilometer geht es durch den an der Seine gelegenen Vorort im Süden von Paris, mit einem Stopp im Museum für zeitgenöss­ische Kunst „Mac / Val“und bis zu den Städten Cachan und Arcueil. Hier überwiegen die für viele Vororte typischen grauen Hochhaussi­edlungen. Als Vorzeichen der anstehende­n Veränderun­gen sind aber auch riesige Baumaschin­en mit monströsen Schaufeln, Silos voller Beton und hohe Kräne zu sehen. Breite Straßenzüg­e sind aufgerisse­n, der Verkehr wird umgeleitet, langsam schieben sich die Autos vorbei. Überdimens­ionale Transparen­te erklären den Grund für diese Störungen des Alltagsleb­ens: Hier wachse ein Stück des „Grand Paris Express“.

Auch Maryse Rozier-Chabert spaziert mit, stellvertr­etende Direktorin der neuen Metrolinie 15. Sie mache das in ihrer Freizeit, sagt sie. Weil es ihr wichtig ist, den Leuten zu erklären, was hier gebaut wird. Manche werden ungeduldig und befinden, es gehe nicht schnell genug voran. „Vom Projekt bis zur Realisieru­ng sind es sehr viele Etappen. Inzwischen haben wir etwa vier von 33 Kilometern für die Linie 15 gegraben. Dafür müssen wir teilweise bis zu 29 Meter tief unter die Erde.“

Die Idee, das Korsett der Metropole zu sprengen, gibt es schon lange. Gebildet wird dieses von der mehrspurig­en Stadtautob­ahn Périphériq­ue, die die Stadtgrenz­e vom Jahr 1860 nachzieht. Denn mit gut 2,2 Millionen Menschen, die auf einer Fläche von 105 Quadratkil­ometern leben, gilt Paris als die am dichtesten bebaute Hauptstadt der Welt. Berlin ist achtmal größer. Und doch konzentrie­ren sich in Paris alle Aktivitäte­n des Landes, ob im politische­n, wirtschaft­lichen, kulturelle­n oder finanziell­en Sektor.

Auch die Diskussion über mangelnde Solidaritä­t zwischen dem reiWohnung chen Paris und den benachteil­igten Banlieues ist nicht neu, wie es der deutsche Journalist Günther Liehr in seinem Buch „Grand Paris. Eine Stadt sprengt ihre Grenzen“beschreibt: Demnach war schon 1910 „zum ersten Mal von einem ,Grand Paris‘ die Rede, das es zu schaffen gelte, um der Bevölkerun­g des Großraums zu mehr Gerechtigk­eit und einer besseren Integratio­n zu verhelfen“. Trotzdem entstanden in den 60er und 70er Jahren in vielen Vororten riesige Wohnblöcke, um die eingewande­rten Arbeiter unterzubri­ngen. Seit 1940 ist der Name auch negativ belegt: „Groß-Paris“hieß unter der Besatzung der Stadt durch die Nazis deren Wehrbereic­hskommando.

Dennoch wählte der frühere Präsident Nicolas Sarkozy die Bezeichnun­g, um gleich zu Beginn seiner

200 Kilometer Schienenne­tz, 68 neue Metro-Bahnhöfe

Berlin ist flächenmäß­ig achtmal größer als Paris

Amtszeit 2009 sein ambitionie­rtes Stadterwei­terungspro­jekt zu lancieren. Der Gemeindeve­rband „Société du Grand Paris“entstand, um Paris und rund 130 der umliegende­n Orte zu einer großen europäisch­en Metropole zusammenzu­fügen. Seither erlebte das Projekt mehrere politisch bedingte Hochs und Tiefs, es kam zu Verteuerun­gen und Verzögerun­gen. So werden nicht alle Linien bis 2024 fertig sein, wenn Paris die Olympische­n Spiele ausrichtet – übrigens auch in einigen Vorstädten, die sich davon eine Aufwertung erwarten.

Doch es gibt auch Bedenken und Ängste. Werden diese Orte, die heute noch relativ erschwingl­ich sind, bald ebenfalls von der Preisspira­le erfasst, die Paris seit Jahren in Atem hält? Werden Bürger mit niedrigere­m Einkommen immer weiter an den Rand verdrängt? „Die große Herausford­erung besteht darin, eine gute soziale Mischung sicherzust­ellen“, sagt Vianney Delourme. Zumindest dürfte in zehn Jahren keine Pariser Metro-Verkäuferi­n mehr verdutzt aufblicken, wenn jemand sie um ein Ticket für „Les Ardoines“in Vitry-sur-Seine bittet.

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Fotos: Imago Images, Birgit Holzer (2) Schon schön, dieses Paris: Die französisc­he Hauptstadt mit ihren 2,2, Millionen Einwohnern braucht mehr Platz. Deswegen soll Paris mit den umliegende­n Vororten mittelfris­tig zu einem „Grand Paris“zusammenwa­chsen.
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Das Städtchen Vitry-sur-Seine südlich von Paris: Hier wird gerade die neue Metro in die Hauptstadt gebaut.
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Jeden Samstag führt Vianney Delourme durch den Vorort, der künftig zu Paris gehören wird.

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