Die Furcht vor dem Kinderschänder
Seit 23 Jahren sitzt Marc Dutroux in Haft. Nun hat sein Anwalt durchgesetzt, dass Psychiater ihn neu untersuchen. Die Sorge wächst, dass er in zwei Jahren frei kommen könnte
Brüssel Sie wollen ihn vergessen, hinter Gittern wissen, am liebsten nie wieder diesen Namen Marc Dutroux hören müssen. Bereits am Sonntag waren mehrere hundert Demonstranten vor dem Brüsseler Justizpalast aufgezogen. „Keine Freiheit für den Kinderschänder“skandierten sie und riefen: „Dutroux reste au trou“(„Dutroux, bleib im Loch“). Ihre Forderung nannten sie das „Gesetz der Engel“: „Wir wollen, dass das Gesetz eine echte lebenslange Haftstrafe vorschreibt“, erklärt ein Organisator des „Schwarzen Marsches“.
Doch die Demonstranten konnten nicht verhindern, dass das zuständige Gericht am Montag zumindest die Türe für ein Haftende des 62-Jährigen öffnete, den viele für den gefährlichsten belgischen Verbrecher aller Zeiten halten. In den kommenden Wochen soll ein neues psychiatrisches Gutachten angefertigt werden, um Dutroux’ psychischen Zustand und das Risiko eines Rückfalls neu zu bewerten. Anwalt Bruno Dayez bezeichnete diese Entscheidung als einen „notwendigen Schritt“. Schon 2018 hatte er angekündigt, die Haftentlassung nach 25 Jahren erreichen zu wollen. Dann käme Dutroux 2021 frei.
Dutroux hatte in den 90er Jahren sechs Mädchen entführt, gefoltert und vergewaltigt. Vier Opfer tötete er. Seit 1996 ist er in Haft. 2004 wurde er schließlich zu lebenslang verurteilt. Zwei entführte achtjährige Mädchen verhungerten eingesperrt, während er im Gefängnis saß. Dabei war der Mann schon Jahre zuvor wegen mehrerer Vergewaltigungen festgenommen und verurteilt worden, kam aber 1992 mit einer günstigen Sozialprognose wieder frei – das ist einer der Gründe, warum Opferanwalt Georges-Henri Beauthier keinem Gutachten mehr vertrauen will.
Bei der Suche nach den Opfern unterliefen der Polizei etliche Fehler. Mehrmals wurde das Grundstück durchsucht, ehe man die Überlebenden und die Leichen fand. Aber auch nach der erneuten Verhaftung gab es unerklärliche Ereignisse. Etliche Zeugen starben. Spuren, denen nicht nachgegangen worden war, fanden die Angehörigen der Überlebenden Jahre später in den Akten. Im Hintergrund stand eine Befürchtung, die nie ausgeräumt werden konnte: War ein einfacher Mann wie Dutroux wirklich in der Lage, derart grausame Taten zu begehen? Oder gab es ein Pädophilen-Netzwerk im Hintergrund? Was ist dran an den Mutmaßungen, dass Dutroux Kinder für höchste Kreise in Gesellschaft und Politik beschaffte, wie er selbst nach seiner Festnahme behauptet hatte?
2010 erfuhr die geschockte belgische Öffentlichkeit, dass bei Ermittlungen wegen Kindesmissbrauchs gegen den höchsten katholischen Würdenträger des Landes, den langjährigen Kardinal Godfried Danneels, pikante Unterlagen gefunden wurden. Darunter sollen nicht nur Akten über Täter gewesen sein, die eigentlich in den Besitz der Justiz gehörten, sondern auch Dossiers über den Kindermörder Marc Dutroux sowie Fotos der beiden von ihm missbrauchten und ermordeten Mädchen Julie und Melissa. Über Rückschlüsse schweigen die Behörden beharrlich.
In den vergangenen Jahren hörte Belgien auf höchst widersprüchliche Weise von dem Kindermörder. Mal attackierte sein Anwalt öffentlich die belgische Justiz wegen „skandalöser“Behandlung seines Mandanten im Gefängnis 25 Kilometer vor Brüssel. Der sei dort völlig isoliert und würde „lebendig verrotten“. Er dürfe an keinen Aktivitäten teilnehmen. Es werde nichts getan, um seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu fördern. Dann wieder hieß es, der Häftling sei inzwischen zu einem reichen Mann geworden. Dutroux handele überaus erfolgreich an der Börse. Sein Sohn, mit dem er mehrmals am Tage telefoniere, diene ihm als verlängerter Arm. Die Erlöse aus den Geschäften warten ausnahmslos auf das Konto des jungen Dutroux. Der Kindermörder hat bis heute keinen Cent Entschädigung oder Schmerzensgeld an die beiden überlebenden Opfer und die Angehörigen der ermordeten Mädchen gezahlt.
Dass Dutroux 2021 wirklich wieder völlige Freiheit erlangt, scheint jedoch ausgeschlossen. Selbst sein Anwalt Dayez fordert lediglich eine Entlassung unter strengen Auflagen – beispielsweise eine elektronische Fußfessel. Obwohl ein Gericht bei einem ersten Anlauf für eine Freilassung 2013 genau diese Variante abgelehnt hatte. Denkbar wären auch Auflagen wie sie seine inzwischen geschiedene Frau Michelle Martin akzeptierte. Sie war als Mittäterin verurteilt worden und wurde Mitte 2012 aus dem Gefängnis entlassen. Seither lebt sie in einem Kloster in der Nähe von Namur.