Das Musterland in der Krise
Seit Wochen rumort es in Chile, die Menschen gehen auf die Straße. Nun muss sogar der Klima-Gipfel abgesagt werden
Bogota Die heftigen Unruhen in Chile haben nun auch direkte Auswirkungen auf die internationale Klimadiplomatie: Chile hat die Ausrichtung der nächsten Weltklimakonferenz im Dezember und des Asien-Pazifik-Gipfels im November abgesagt. „Angesichts der schwierigen Umstände, die unser Land in den letzten Wochen erlebt, hat unsere Regierung beschlossen, den APEC-Gipfel im November und die COP 25 im Dezember nicht zu veranstalten“, sagte Präsident Sebastian Pinera. Es sei nun vordringliche Aufgabe, die öffentliche Ordnung, die Sicherheit der Bürger und den sozialen Frieden wieder herzustellen und alle Kraft dafür aufzuwenden, eine neue soziale Agenda zu erarbeiten, um Antworten auf die wichtigsten Fragen der Bürger zu finden.
Seit Wochen wird Chile von Unruhen erschüttert. Die Proteste entzündeten sich an einer Preiserhöhung für Bustickets. Wiederholt kam es zu Gewalt und Vandalismus durch Demonstranten, Sicherheitskräfte gingen hart gegen Demonstranten vor. Es gab Tote, Verletzte und tausende Festnahmen. Die Sicherheitskräfte wirkten ebenso überfordert wie Pinera, der zunächst davon sprach, sein Land befinde sich im Kriegszustand gegen einen mächtigen Gegner. Sein eigener Chef der Sicherheitskräfte musste ihm widersprechen: „Ich befinde mich im Krieg mit niemandem.“Pinera vermutete vor allem Venezuela und Kuba als Strippenzieher hinter den Protesten, Regierungen, die von Chile wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen immer wieder kritisiert wurden.
Inzwischen vollzog der Präsident eine Kehrtwende. Er entließ sein gesamtes Kabinett, um einen politischen Neuanfang zu ermöglichen. Die Proteste wiederum nehmen nicht mehr nur die Preiserhöhung der Bustickets ins Visier, es geht um Grundsätzliches. Unter anderem fordern die Demonstranten eine neue Verfassung, denn die derzeit gültige stammt noch aus der dunklen Zeit der chilenischen Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet. Sie diente in der Vergangenheit unter anderem dazu, Proteste der indigenen Ureinwohner, der Mapuche, als Terrorismus zu brandmarken. Die Mapuche fordern seit Jahrhunderten erfolglos ihre Rechte ein. Auch Pineras Vorgängerin, der heutigen UN-Menschenrechtskommissarin Michele Bachelet, gelang es während ihrer zwei Amtszeiten nicht, dieses heiße Eisen anzupacken.
Zwar gilt Chile im Vergleich zu vielen anderen südamerikanischen Ländern als wirtschaftlich stabil, gar als Musterland, doch vom Wirtschaftswachstum kommt bei den einkommensschwachen Schichten nur wenig an. Es rumort auf vielen Ebenen: Kleinbauern wehren sich gegen die Agrar-Industrie, die ihnen das Wasser wegnimmt. Menschen aus den ärmeren Vierteln erhalten kaum Zugang zu Bildung und Gesundheitssystem.
Ähnlich wie der gescheiterte „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, der Länder wie Venezuela in eine tiefe Krise führte, hat der Konservatismus in Chile keine Antworten auf die drängendsten Fragen weiter Teile der Bevölkerung. Dies will Pinera nun in einem breit angelegten Dialog ändern. Die Frage ist allerdings, ob er dazu noch die notwendige Akzeptanz im Land hat.