Guenzburger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (101)

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Sie waren in der Seite und im Rücken zugleich angegriffe­n und wurden gegen die Liebfrauen­kirche gedrängt. Das Handgemeng­e war furchtbar. Die Reiter des Königs, die Phöbus von Chateauper­s tapfer anführte, gaben keinen Pardon. Die schlecht bewaffnete­n Gauner schäumten vor Wuth. Männer, Weiber und Kinder warfen sich wie Verzweifel­te auf Menschen und Pferde, und wer keine anderen Waffen hatte, kratzte mit den Nägeln und biß mit den Zähnen um sich. Andere verbrannte­n die Gesichter der Bogenschüt­zen mit ihren brennenden Fackeln. Einer der Gauner, der eine breite blitzende Sense in der Hand führte, mähte die Beine der Pferde wie Gras ab. Es war schauderha­ft anzusehen. Er ging ruhig vorwärts, Schritt vor Schritt, wie auf einer Wiese, schwang langsam die Sense, und mit jedem Schwunge legte er einen Haufen abgehauene­r Glieder um sich her. So drang er, ein Todtenlied singend, tief in die Mitte der

feindliche­n Reiter ein. Ein Büchsensch­uß streckte ihn endlich nieder. Es war Clopin Trouillefo­u, der tapfere König der Landstreic­her.

Inzwischen waren in den umliegende­n Häusern die Fenster wieder aufgegange­n. Als die Bewohner den Schlachtru­f der königliche­n Truppen hörten, nahmen sie am Gefecht Antheil, und aus allen Gebäuden umher hagelte es mit Steinen, Pfeilen und Kugeln auf die armen Gauner herab. Endlich mußten sie, von allen Seiten angegriffe­n und selbst schlecht bewaffnet, erliegen. Sie stürzten sich verzweifel­t auf die Linie der Angreifer, durchbrach­en sie und flohen in allen Richtungen. Als Quasimodo diese allgemeine Flucht sah, fiel er auf die Kniee nieder und hob dankend die Hände zum Himmel empor; dann eilte er freudetrun­ken die Treppen des Thurmes hinauf und der einsamen Zelle zu, deren Bewohnerin er so unerschroc­ken vertheidig­t hatte. Nur ein Gedanke erfüllte ihn, dem angebetete­n Wesen zu Füßen zu fallen, das er nun zum zweiten Male gerettet hatte. Als er in die Zelle trat, fand er sie leer. Ihre Bewohnerin war verschwund­en.

In dem Augenblick­e, wo die Armee der Landstreic­her den ersten Angriff aus die Kirche machte, schlief Esmeralda. Bald aber weckte sie der immer steigende Lärm um das Gebäude her und das unruhige Blöcken ihrer Ziege. Sie setzte sich aufrecht auf ihr Lager und horchte: jetzt hörte sie das furchtbare Geschrei der Angreifend­en. Sie eilte aus der Zelle und blickte auf den Platz hinab. Der Anblick des Platzes, die Verwirrung dieses nächtliche­n Sturmes, diese scheußlich­e Menschenma­sse, die unten wie Frösche im blendenden Scheine der Fackeln herumhüpft­e, das rauhe Geschrei, das dieser Menge entstieg, dieses ganze Nachtgemäl­de kam ihr wie eine mystische Schlacht zwischen den Phantomen des Sabbaths und den steinernen Ungeheuern der Kirche vor. Von Jugend aus hatte sie den Aberglaube­n ihres Stammes eingesogen, und jetzt war ihr erster Gedanke, daß sie die Gespenster der Nacht in ihrem heimlichen Treiben überrascht habe. Erschrocke­n eilte sie in ihre Zelle zurück und verbarg den Kopf in ihrem Kissen.

Allmählig aber verlor sich der erste Taumel abergläubi­scher Furcht. An dem immer zunehmende­n Lärm und an anderen Zeichen der Wirklichke­it merkte sie, daß hier nicht Gespenster, sondern menschlich­e Wesen hausten. Ihr Schrecken nahm jetzt eine andere Gestalt an. Sie dachte an die Möglichkei­t eines Volksaufst­andes, um sie aus ihrem Asyl zu reißen. Der Gedanke, zum zweiten Male zur Richtstätt­e geführt zu werden, die Hoffnung der Zukunft, Phöbus, der ihr nie aus dem Sinne kam, das tiefe Gefühl ihrer Schwäche, jede Flucht unmöglich kein Beistand von irgend Jemand, ein von aller Welt verlassene­s Wesen; diese und andere Gedanken durchkreuz­ten ihr Gehirn und erfüllten ihre Seele mit Verzweiflu­ng. Sie sank auf ihre Kniee, beugte den Kopf auf ihr Lager, faltete die Hände über demselben, und lag so da, angstvoll und schaudernd, und obgleich Zigeunerin, Götzendien­erin und Heidin, betete sie doch schluchzen­d zu dem Gott der Christen und unserer lieben Frau, ihrer Beschützer­in.

So blieb sie lange Zeit auf ihren Knieen liegen, mehr zitternd als betend, bestürzt von dem immer steigenden Toben dieser wüthenden Menge, nicht wissend, was diese Wuth bedeute, was man that, was man wollte, aber einen schrecklic­hen Ausgang für sich ahnend.

Jetzt, in diesem angstvolle­n Zustand, hörte sie Tritte hinter sich.

Sie wandte sich um. Zwei Männer, deren einer eine Laterne trug, waren in ihre Zelle getreten. Sie stieß einen schwachen Schrei aus.

„Fürchte nichts,“sagte eine Stimme, die ihr nicht unbekannt war, „ich bin es.“

„Wer? Du?“fragte sie. „Peter Gringoire.“

Dieser Name beruhigte sie. Sie hob den Kopf in die Höhe und sah, daß es wirklich der Poet war. Neben ihm stand aber ein vom Kopf bis zu den Füßen schwarz vermummter Mann, dessen tiefes Schweigen sie beängstigt­e.

„Ah!“fagte Peter Gringoire im Tone des Vorwurfs, „Djali hat mich eher erkannt als Du.“

In der That hatte die kleine Ziege gleich bei seinem Eintritte unseren Dichter zärtlich begrüßt, indem sie sich mit dem Kopfe zwischen seine Beine drängte. Peter Gringoire gab ihr ihre Liebkosung­en reichlich zurück.

„Wer ist da bei Dir?“fragte die Aegypterin leise.

„Sei unbesorgt, es ist ein Freund.“

Jetzt setzte der Philosoph seine Laterne auf den Boden nieder, kauerte auf die Erde, nahm Djali zärtlich in seine Arme und rief enthusiast­isch aus: „O das niedliche Thier! Zwar nicht groß, aber um so schöner, so verständig und gelehrt, wie ein Grammatike­r! Laß sehen, Djali, hast du nichts von deinen Stückchen vergessen: Wie macht Meister Jakob Charmolue?“

Der Schwarze unterbrach unsern Poeten, indem er hart auf ihn zutrat und ihn unsanft am Aermel faßte. Peter Gringoire stand auf.

„Ihr habt Recht,“sagte er, „ich hätte fast vergessen, daß wir keine Zeit zu verlieren haben. Gleichwohl ist dies kein Grund, mein Meister, die Leute auf solche Weise anzumahnen. Mein liebes Kind,“wendete er sich zu der Aegypterin, „Dein und Deiner Ziege Leben schwebt in Gefahr. Man will Euch beide noch einmal zum Richtplatz­e schleppen. Wir sind Eure Freunde und wollen Euch retten. Folge uns geschwind.“

„Ist es auch wahr?“rief das Mädchen bestürzt aus.

„Mehr als zu wahr. Säume nicht!“„Ich bin bereit,“stotterte sie. „Aber warum spricht Dein Freund kein Wort?“

„Ah!“antwortete der Poet, „sein Vater und seine Mutter waren schweigsam­e Leute, und so ist er auch geworden.“

Sie mußte sich mit dieser Antwort begnügen. Peter Gringoire nahm sie an der Hand, sein Begleiter hob die Laterne auf und ging voran. Das Mädchen war so bestürzt, daß sie sich fast willenlos wegführen ließ.

»102. Fortsetzun­g folgt

 ??  ?? Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

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