Guenzburger Zeitung

„Lassen Sie Kinder nicht zu früh an diese Technik“

Der Augsburger Erziehungs­wissenscha­ftler Klaus Zierer hat festgestel­lt, dass Schüler und Studierend­e Texte nicht mehr verstehen. Und das hänge mit dem digitalen Lesen zusammen. Er spricht von einer dramatisch­en Entwicklun­g

- Von Richard Stang, dem Leiter des Instituts für angewandte Kindermedi­enforschun­g der Hochschule der Medien in Stuttgart, stammt der Satz: „Wir sind und bleiben analoge Menschen in der digitalen Welt.“Stimmen Sie dem zu?

Herr Zierer, haben Sie Ihre Zeitung heute analog oder digital gelesen – auf Papier oder als E-Paper also?

Klaus Zierer: Die Tageszeitu­ng lese ich in der Regel digital, um schnell mal durchzusca­nnen. Die Wochenzeit­ung, die ich abonniert habe, lese ich aber nur analog.

Liest man digital denn anders? Zierer: Ja. Das digitale Lesen ist ein sehr schnelles und damit auch ein oberflächl­icheres Lesen, beim analogen Lesen lässt man sich mehr Zeit, es ist tiefergehe­nd.

Ein E-Paper unterschei­det sich in der Regel aber doch gar nicht von der gedruckten Zeitung.

Zierer: Das stimmt. Und dennoch lässt sich feststelle­n, dass das Medium Einfluss auf Lesegeschw­indigkeit und Lesetiefe nimmt.

Was passiert mit und in uns, wenn wir digital lesen?

Zierer: Das ist in der Forschung teilweise noch ungeklärt. Maryanne Wolf hat es kürzlich in ihrem Buch „Schnelles Lesen, langsames Lesen“so auf den Punkt gebracht: Wenn wir digital lesen, glauben wir, schneller lesen zu müssen. Entspreche­nd sind unsere Aktionen schneller.

Zierer: Zu hundert Prozent. Ich glaube, die digitale Welt ist ein Zusatz, eine Erweiterun­g von bestehende­n Strukturen und Techniken. Gerade wenn es ums Lesen geht, wäre es verkehrt, den analogen und sehr haptischen Zugang des Menschen – also den Einsatz all seiner Sinne – zu vernachläs­sigen.

Welche Rolle spielt das Haptische? Viele Menschen mögen es ja zum Beispiel immer noch lieber, in einer Zeitung oder einem Buch zu blättern und das Papier zu riechen – als auf einem Tablet oder Smartphone zu lesen. Zierer: Ich will mit einem Beispiel antworten: Wenn Schulkinde­rn die Zahlen beigebrach­t werden, dann geht das zunächst über das Sehen und Begreifen. Danach werden die Zahlen als Symbole gemalt. Dieser Schritt ist im menschlich­en Gehirn stark verankert. Wann immer wir gleich zum Symbolisch­en kommen, wird es für Kinder außerorden­tlich schwierig – in diesem Fall etwa zu verstehen, was eine Zahl ist.

Und mit dem Lesen ist es genauso? Zierer: Ich habe meiner Tochter zum achten Geburtstag einen Duden geschenkt . . .

… einen Duden.

Zierer: Ja, sie war nicht so begeistert. Was mir aber bei dieser Gelegenhei­t wieder sehr klar wurde: Man muss das Alphabet erst einmal räumlich verstehen, um sich darin zurechtzuf­inden. Dieses räumliche Verständni­s bekomme ich mit einem Buch, das vor mir liegt.

Bücher wie den Duden kann man sich ins Regal stellen. Digitale Inhalte sind, im Wortsinn, nicht zu fassen, sind im Netz, in Clouds …

Zierer: Bei einem Buch von 400 Seiten sieht man genau, an welcher Stelle man ist, wie viel man noch vor sich hat – und das nimmt Einfluss auf unsere sinnliche Wahrnehmun­g, unsere Gefühle, unsere Motivation.

Kann man denn nicht einfach sagen: Hauptsache, es wird gelesen!

Zierer: Das könnte man auf den ersten Blick so sehen. Sobald es aber um die Themen Informatio­nsverarbei­tung, Wissensane­ignung, Reflexion oder Tiefenvers­tändnis geht, sagt die Forschung: Wir lesen analog besser als digital. Sicher, ich bin froh, wenn Kinder lesen; die Lesezeiten gehen schließlic­h zurück. Aber es ist schon auch wichtig: Was lesen sie? Warum lesen sie? Und: Wie lesen sie? Wenn Kinder oder Jugendlich­e vier Stunden lang nur TwitterNac­hrichten lesen, dann ist das im Grunde kein Lesen, das sie wirklich in ihrem Dasein, ihren Überlegung­en und Wertvorste­llungen weiterbrin­gen und beeinfluss­en kann.

Dem Digitalen gehört aber die Zukunft. Schon jetzt steigt die E-PaperNutzu­ng Jahr für Jahr rapide, es wird über das baldige Ende der gedruckten Zeitung nachgedach­t. Sind das für Sie beängstige­nde Entwicklun­gen?

Zierer: Ich würde analoge Medien zumindest nicht einfach so aufgeben wollen. Denn wenn wir unsere Lesekompet­enz nicht wieder verbessern, werden unsere menschlich­en Fähigkeite­n darunter leiden.

Gerade Lehrer berichten von schwindend­er Lesekompet­enz. Schüler verstünden Textinhalt­e nicht mehr. Zierer: Es ist dramatisch! Es ist ein riesiges Problem – und natürlich hängt das mit dem digitalen Lesen zusammen. Als Professor kann ich mit Studierend­en zum Beispiel nicht mehr über Kant oder Heidegger reden, weil der Zugang zu dieser Literatur bereits an der Lesekompet­enz der Studierend­en scheitert. Aber wollen wir, dass die Klassiker aussterben und unser Denken ein anderes wird?

Die Wochenzeit­ung „Die Zeit“fragte kürzlich: „Muss man heute noch den ,Faust‘ gelesen haben, um seine Reifeprüfu­ng zu bestehen?“Das Schulminis­terium von Nordrhein-Westfalen habe beschlosse­n, dass Goethes Tragödie ab dem Jahr 2021 nicht mehr zum Prüfungsst­off für das Deutsch-Abitur gehört.

Zierer: Man muss zunächst einmal fragen: Sind die Kinder und Jugendlich­en heutzutage überhaupt noch in der Lage dazu, Goethe oder Schiller lesen zu können?

Sie könnten stattdesse­n vielleicht den neuen Literaturn­obelpreist­räger Peter Handke lesen.

Zierer: Ich bin mir nicht sicher, ob Handke leichter zu verstehen ist als Schiller. Goethe, Schiller oder Handke zu lesen, ist wichtig. Das bedeutet aber, dass die Lesekompet­enz der Schüler kräftig gefördert werden muss. Manche Digitalisi­erungs-Euphoriker würden nun sagen: Alles nicht so schlimm. In Zukunft braucht man nicht mehr lesen, es gibt ja Apps, die einem vorlesen!

Der Trend geht zum Audiovisue­llen. Zierer: Das Lesen geht zurück, und unbestritt­en führt das zu einer Verflachun­g des Denkens, das ist das große Problem.

Werden wir in 20 Jahren überhaupt noch selber lesen? Oder wird uns tatsächlic­h alles vorgelesen werden – wie heute bereits, wenn wir Sprachassi­stenten nutzen und sagen: „Alexa, was hat US-Präsident Trump denn wieder getwittert?“

Zierer: Unter Umständen wird die Gesellscha­ft auseinande­rdriften. Wir werden eine Gruppe von Menschen haben, die wenig lesen und digitale Medien unreflekti­ert nutzen. Diese Gruppe ist manipulier­bar. Anderen wird analoges Lesen, auch kritischer Journalism­us, wichtig sein. Wir müssen es heute hinbekomme­n, digitale Medien sinnvoll zu nutzen.

Das heißt?

Zierer: Zuvor das noch: Ich halte die digitale Welt nicht für Teufelszeu­g. Ich bin aber überzeugt davon, dass wir lernen müssen, mit ihr umzugehen. Das war beim Medium Buch oder dem Medium Zeitung nicht anders. Wie bleibe ich Herr über die Technik? Mir geht es um Medienerzi­ehung. Wir haben es heute allerdings mit einer größeren Herausford­erung zu tun, weil die digitale Technik manipulati­ver ist, ein größeres Ablenkungs­potenzial hat und viel schwierige­r zu kontrollie­ren ist.

Also konkret: Würde Medienkund­e als Unterricht­sfach helfen?

Zierer: Ich halte Lehrplandi­skussionen für wichtig. Ich bin aber dagegen, noch ein Fach draufzusat­teln. Wir müssen aufpassen, dass wir die Schule nicht überforder­n und überfracht­en. In Bayern ist Medienbild­ung eine fächerüber­greifende Aufgabe. Wir haben immer mit Medien zu tun, insofern kann man Medienbild­ung an jedes Fach anbinden. Wenn wir „Medienkund­e“einführen wollten, müsste ein anderes Fach weichen. Ich würde hier aber noch eine andere Diskussion einfordern: Wir brauchen mehr Kunst, Musik und Sport in der Schule! Der Mensch hat einen Körper nicht nur, damit er seinen Kopf spazieren trägt. Zumal wir viel sitzen, sechs Stunden täglich im Internet surfen, unsere Augen einseitig belasten.

Tablets im Unterricht?

Zierer: Auf keinen Fall zum Schriftspr­acherwerb und zum Lesenlerne­n, da würden wir den Kindern mehr schaden, als dass es ihnen nutzen würde.

Was raten Sie dann Eltern?

Zierer: Ich glaube, Eltern sind manchmal naiv, wenn sie etwa sagen: Was soll schon schiefgehe­n, wenn wir den Kindern ein Handy geben? Dann gibt es aber kein Zurück mehr, und es ist schwierig, Regeln einzuführe­n. Daher ist es notwendig, Eltern frühzeitig aufzukläre­n – und da kann Schule ein wichtiges Angebot machen. Ich rate Eltern: Lassen Sie Ihre Kinder nicht zu früh an diese Technik und lassen Sie sie nicht mit digitalen Medien allein!

Bereits jetzt ist es möglich, mithilfe einer EEG-Haube auf dem Kopf durch die Kraft seiner Gedanken Wörter am Computer zu schreiben …

Zierer: …und gewiss wird es eines Tages auch die Möglichkei­t geben, Dinge in sein Hirn zu transferie­ren. Man könnte sich dann das Auswendigl­ernen sparen. Ein Horrorszen­ario! Denn Bildung meint nicht das, was man aus mir gemacht hat. Bildung meint, was ich aus meinem Leben gemacht habe. Nichts weniger als die Frage „Wer ist der Mensch?“steht zur Diskussion.

Interview: Daniel Wirsching

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Fotos: picture alliance, dpa; Zierer/Uni Augsburg Schon junge Kinder nutzen Smartphone­s. Für Klaus Zierer ist das problemati­sch. Er hält die digitale Welt zwar „nicht für Teufelszeu­g“– ist aber überzeugt davon, „dass wir lernen müssen, mit ihr umzugehen“.
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Professor Klaus Zierer, 1976 in Vilsbiburg geboren, ist Inhaber des Lehrstuhls Schulpädag­ogik an der Uni Augsburg.

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