Guenzburger Zeitung

Gefühlte Wahrheiten

- VON DANIEL WIRSCHING

Meinungsfr­eiheit Wann der Siegeszug des Adjektivs „gefühlt“begann, weiß ich nicht. Es gibt Beispiele zuhauf, etwa aus dem Jahr 2012: „Sängerin meistert gefühlte drei Oktaven“. Immer wieder tat sich Die Zeit hervor: „Gefühlte Geschichte“(2004), „Die gefühlte Lücke“(2008), „Gefühlte Krise“(2010). Klassiker des Gefühlten sind „gefühlte Inflation“und „gefühlte Temperatur“. Aber bitte bringen

Sie mich jetzt nicht in die Verlegenhe­it, beides erklären zu müssen…

Einen Aufschwung erlebte das Adjektiv mit der Zunahme einer Polarisier­ung unserer Gesellscha­ft. So spielte mit Blick auf die „Flüchtling­skrise“stets die „gefühlte Kriminalit­ät“eine Rolle. Und wie dem Wort „News“ein „Fake“angeklebt wurde, so wurde dem Wort „Wahrheit“ein „gefühlt“aufgezwung­en. Mit Gefühlen wird Stimmung und Politik „gemacht“, im (politische­n) Journalism­us sollte daher mit

Gefühlen sehr vorsichtig umgegangen werden. Gerade wieder beliebt, besonders um die Landtagswa­hl in Thüringen herum, ist die „gefühlte Wahrheit“, dass es mit der Meinungsfr­eiheit in Deutschlan­d nicht mehr weit her sei. Sagen etwa AfDPolitik­er gerne in jedes Mikrofon, das ihnen vor die Nase gehalten wird. Oder schreiben Internetnu­tzer in sämtliche Kommentars­palten.

Das Problem daran: Gefühle sind eine bedeutende Form der Wahrnehmun­g. Mit Fakten ist schwer gegen sie anzukommen. Womit wir bei Journalist­en wären: Die müssen Fakten recherchie­ren. Und dürfen nicht der Versuchung erliegen, mit „gefühlten Wahrheiten“um sich zu werfen. Leider haben in den letzten Jahren eine Reihe von Journalist­en Gefallen daran gefunden und ein Geschäftsm­odell daraus gemacht. In mir löst das ungute Gefühle aus.

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