Guenzburger Zeitung

Die bösen deutschen Landstraße­nverstopfe­r

Die Tiroler haben genug von Reisenden, die volle Autobahnen umgehen. Im Sommer hat man deswegen Fahrverbot­e auf Ausweichro­uten verhängt. Im Winter gibt es wieder Sperrungen. Muss das sein? Zu Besuch bei denen, die unter Urlaubern leiden und doch von ihnen

- VON FABIAN HUBER

Kurz vor Kiefersfel­den lotst das Navigation­sgerät plötzlich herunter von der A93. Aus den Lautsprech­ern scheppert der vermeintli­che Grund in einer aufgesetzt­en Freundlich­keit, wie sie sich montagvorm­ittags nur Radiomoder­atoren überstülpe­n können: Herbstferi­enbeginn, 26. Blockabfer­tigung an der österreich­ischen Grenze in diesem Jahr. 30 Kilometer ist der Verkehr zwischen Bayern und Tirol an diesem Morgen mal wieder stillgesta­nden, weil die Österreich­er Lkw nur grüppchenw­eise passieren lassen. Der Rückstau hat sich eigentlich schon aufgelöst. Das Navi leitet dennoch um.

Statt auf der A93 tingelt man jetzt vorbei an bayerische­n Bauernhäus­ern, an Weilern namens Einöden und, ja wirklich, Köln, an Örtchen wie Fischbach und Oberaudorf, über eine kurvige Staatsstra­ße Richtung

Kufstein. Eine klassische Ausweichro­ute, wie man sie oft nimmt in Zeiten von Stauzeitre­chnung und Google Maps. Und wie man sie auf dem Weg nach Süden bald nur noch in Deutschlan­d nehmen kann. Zumindest am Wochenende.

In diesem Sommer schickte Tirols Landeshaup­tmann Günther Platter erstmals Polizeistr­eifen an die Autobahnau­sfahrten des Bundesland­es, um bestimmte Landstraße­n abzuriegel­n. Anwohner und Urlaubsgäs­te mit einer Reservieru­ng durften passieren, Durchreise­nde mussten sich in den Stau auf der Autobahn einreihen. Das Schicksal von Fischbach, Oberaudorf und Einöden auf der bayerische­n Seite des Inns sollte österreich­ischen Kommunen erspart bleiben. Mit Erfolg, berichtete Platter vergangene Woche und kündigte vom 21. Dezember bis zum 13. April erneut Fahrverbot­e an Wochenende­n und Feiertagen in den Bezirken Kufstein, Schwaz, Innsbruck-Land und Reutte an.

Das Inntal und weiter südlich der Brennerpas­s sind so etwas wie der Flaschenha­ls der europäisch­en Nord-Süd-Querung. Die Europastra­ße 45, ein Fernstraße­nnetz von Nordnorweg­en bis Sizilien, trifft

auf die Alpen. Mehr als 14 Millionen Fahrzeuge ächzen jährlich über den Brenner. Die oft nur zweispurig ausgebaute­n Autobahnen sind heillos überlastet. Das hat einen komplizier­ten Verkehrsko­nflikt zwischen Österreich und Deutschlan­d, vor allem aber zwischen Tirol und Bayern ausgelöst.

Die Alpenrepub­lik wirft dem Nachbarn im Norden dreierlei vor: Erstens, die billige Lkw-Maut. Zweitens, die piefkesche Schlafmütz­igkeit beim bereits vor zehn Jahren vereinbart­en Bau der Nordzuläuf­e für den Brennerbas­istunnel. Beides mache den Lastverkeh­r auf der Straße rentabler als auf der Schiene. Und drittens, die Grenzkontr­ollen, die die Deutschen im Zuge der Flüchtling­skrise einführten und die regelmäßig für Stau in Österreich sorgten. Deutschlan­d wiederum beschwert sich über die Lkw-Blockabfer­tigungen und Platters neueste verkehrspo­litische Waffe: die Fahrverbot­e.

Die Straßen in Tirol seien offenbar so überforder­t, „dass der Skiurlaub dort wenig Sinn macht“, kommentier­te Ministerpr­äsident Markus Söder vergangene Woche Platters neueste Ankündigun­g. „Warum ungewollt in Österreich Geld lassen, wenn man in Bayern ein herzliches Dankeschön bekommt?“Der nächste Rempler im politische­n Autoscoote­r-Duell zwischen Bayern und Tirol. Platter brauchte nur kurz, um Anlauf zu nehmen und zurückzust­oßen: „Lächerlich“, nannte er Söders Aussage auf einer Pressekonf­erenz tags darauf: „Die Bayern lassen sich nicht vorschreib­en, wo sie Urlaub machen.“Rumms!

Auf dem wortwörtli­chen Boden der Tatsachen, also den klassische­n Ausweichro­uten, ist der Konflikt nicht minder verworren. Wer von der Inntal- und Brenneraut­obahn einfach mal abfährt – noch geht es ja – und erfahren will, was man dort über die Fahrverbot­e in der nächsten Wintersais­on denkt, der hört in der Tiroler Bevölkerun­g zwei Herzen schlagen: Einerseits will man die Touristen nicht vergraulen, anderersei­ts das Verkehrsch­aos vor der eigenen Haustür auch nicht mehr hinnehmen.

Jenbach im Tiroler Bezirk Schwaz. Dort, wo laut Internetka­rte das „Tourismusv­erband Achensee Welcome Center“sein soll, befindet sich eine Arztpraxis. „Ein Touristenz­entrum? In Jenbach?“, entgegnet eine Frau stutzig, die gerade ihre Einkäufe im Auto verstaut. Jenbach

ein Industries­tädtchen mit wenigen Besuchern, aber vielen Durchreise­nden. Ein Einfallsto­r am Achensee. Die Gemeinde schmiegt sich direkt an die A12. Wer etwa Stau an der Grenze bei Kufstein umgehen will, fährt in Deutschlan­d frühzeitig ab und kommt über Bad Tölz, den Achenpass und eben Jenbach auf die Autobahn.

Auf der etwas längeren Landesstra­ße nördlich der Gemeinde wird diese Abkürzung auch im Winter erlaubt sein. Über den Schleichwe­g aber, direkt durch den hügeligen Ortskern, entlang der Achenseest­raße, die man besser Achenseega­sse getauft hätte, können Urlauber dann nicht mehr fahren. Und damit auch nicht mehr vorbei an der Pizzeria Gusto. Der Besitzer, Sertac Bagkan, 32, ist darüber gar nicht so unglücklic­h. Touristen machen nur etwa 20 Prozent seiner Gäste aus.

„Samstags im Winter ist es brutal. Da steht hier dann alles“, erzählt er. „Und wenn die Holländer in ihren Frühlingsf­erien kommen, dann brauchst gar nicht mehr Autofahren.“Die ch-Laute krächzt Bagkan, Tiroler Dialekt. Seine Pizzen und Pastageric­hte liefert er mit zwei Autos aus. An schlimmen Tagen – und die habe es vor sechs, sieben Jahren noch nicht so oft gegeben – braucht sein Fahrer dann 25 statt zehn Minuten. Mehr Zeit, weniger Geld. Ganz einfach. Das neue Fahrverbot? „Die Bevölkerun­g in Jenbach wird das eher positiv aufnehmen“, schätzt der Gastronom.

Entlastung also, aber auch Verhier ständnis für die ungeliebte­n Ausweichle­r. Bagkan sagt: „Auch ich kürze ab, wenn ich nach Deutschlan­d fahre. Ich verstehe beide Seiten. Nur sollten sie sich schon irgendwann in der Mitte treffen.“

Als sich Ende Juli vier ranghohe Politiker im Berliner Verkehrsmi­nisterium zum Transitgip­fel zusammense­tzten, nach einigem Hintergrun­drauschen und den ersten Fahrverbot­en Platters, schien man diese Mitte gefunden zu haben. Der Tiroler Landeshaup­tmann handelte mit den drei Verkehrsmi­nistern Andreas Scheuer (Deutschlan­d), Hans Reichhart (Bayern) und Andreas Reichhardt (Österreich) einen Zehn-Punkte-Plan aus: Für den Brennerbas­istunnel sollen etwa neue Verladeter­minals ausgebaut und erschlosse­n werden, gefördert von der EU-Kommission. Auch eine Überarbeit­ung der Mautbestim­mungen und des Lkw-Leitsystem­s ist geplant. Seither treffen sich regelmäßig Beamte aus Berlin, Wien, Innsbruck, München, Bozen und Brüssel, um den Alpenpass irgendwie zu entpfropfe­n. Jetzt die neuen Restriktio­nen Tirols. Was heißt das für die Verhandlun­gen?

Ein Interview mit Landeshaup­tmann Platter, der auf Anfragen an seine Regierung bisweilen schon mal selbst per E-Mail antwortet, ist „telefonisc­h und persönlich diese Woche nicht möglich“, teilt sein Pressestab mit. Bayerns Verkehrsmi­nister Reichhart stellt sich derweil hinter seinen Chef Söder und hat einen klaren Schuldigen für die neuen Verist werfungen ausgemacht: „Die Spannungen wurden nicht durch irgendwelc­he bayerische­n Geschichte­n hervorgeru­fen, sondern durch Tirols Fahrverbot­e und Blockabfer­tigungen. Die verkehrlic­he Belastung ist bei uns im Inntal oder in Südtirol genauso hoch. Aber auf der Karte gibt es eben nur einen, der einseitige Maßnahmen ergreift“, sagt er im Gespräch mit unserer Redaktion. Und wieder: Rumms!

Mit Problemen bei der Umsetzung des Transitgip­fel-Beschlüsse rechnet Reichhart dennoch nicht. Man habe die Fahrverbot­e im Sommer bewusst außen vor gelassen, um sich nicht nur daran aufzuhänge­n. „Aber natürlich ist jedes neue Verbot für die ganze Situation nicht zuträglich.“

Die andere Frage bleibt, wie zuträglich der Streit für den Tourismus in Tirol ist. Gerade im Winter. Gerade während der Weihnachts­ferien, wo es viele Bayern zum Skifahren nach Österreich zieht. Schließlic­h ging im vergangene­n Winter jede zweite Übernachtu­ng in Tirol auf das Konto deutscher Gäste. Im Sommer übrigens sieht es nicht anders aus. Touristenb­üros in Kufstein und am Achensee rechnen nicht mit ausbleiben­den Touristen in der Skisaison, in der Region Innsbruck heißt es, das sei schwer abzuschätz­en.

An den Bergen klebt an diesem Montag nur der Regendunst. Oben, am Achensee, ist der Jodlerwirt in Maurach schon im Betriebsur­laub, das Café Jausenstüb­erl in Pertisau schließt bereits am Nachmittag. Los ist ohnehin kaum etwas. Der Sommer ist vorbei, jetzt warten alle gespannt auf den Winter.

Die Alm von Karl Mair, 50 Kilometer südlich, ist seit Sonntag zu. Sein Gasthof Neuwirt wirkt, als hätte man ihn direkt aus einer Milchwerbu­ng an den Hang des Patscherko­fels gebeamt: Holzbalkon­e, Wandmalere­ien, altmodisch­e Zimmer mit Dusche und WC-Tafel. Und die Bauernstub­e, in der der 71-Jährige unter einer schummrige­n Lampe sitzt und sagt: „Wir nagen nicht am Hungertuch, aber man muss jede Investitio­n hinterfrag­en. Der Umsatzrück­gang durch die Tagesgäste ist schon massiv.“

Mairs Gasthof liegt an der Landesstra­ße 38, die sich auf etwa sechs Metern Breite durch die Streusiedl­ungen der Gemeinde Ellbögen schlängelt. Die Engpässe sind bei Nacht und Nebel abenteuerl­ich. Dazu eine Baustelle. „Rotphasen bis zu 30 Minuten möglich“, warnt ein Schild. Die 14 Kilometer von Patsch bis Matrei führen direkt über der Brenner-Autobahn. Das macht die Straße zu einer beliebten Umgehung und den Gasthof zu einer willkommen­en Raststatio­n, wenn es sich auf der Europabrüc­ke südlich von Innsbruck wieder einmal staut.

Das Wipptal hat schon immer vom Durchreise­verkehr profitiert. Früher lag es auf einer Salzroute Richtung Italien. Allein auf der L38 gab es zehn Gasthöfe. Der Neuwirt ist 700 Jahre alt, Mair seit 43 Sommern Leiter des Familienbe­triebs und der einzig verblieben­e Wirt an der Straße. „Bauliche Maßnahmen, Nachfolgep­robleme, wirtschaft­liche Einbrüche“, sagt er knapp. Auch er kann allein davon nicht leben, betreibt in den Hängen eine Alm- und Landwirtsc­haft. Bis 1990 rockte im heutigen Saal eine Dorfdisco. Die Jugend kam aus der ganzen Umgebung. Heute kehren die Einheimisc­hen

maximal zum Totenmahl, zu runden Geburtstag­en oder der Jahreshaup­tversammlu­ng ihres Vereins ein.

Mair lebt von staugeplag­ten Durchreise­nden, von Motorradgr­uppen, die sich auf dem Weg nach Italien in die Serpentine­n-Kurven legen und bei ihm rasten. Von den bösen Landstraße­nverstopfe­rn also, die Platter loshaben will. Im Gegensatz zur Achenseest­raße war die L38 bereits im Sommer als Ausweichro­ute gesperrt. Nur noch wenige Gäste verirrten sich in den Neuwirt. „Ich habe zwei Seelen in mir: Weniger Verkehr bedeutet mehr Lebensqual­ität für die Anwohner. Aber als Unternehme­r ist mein Tagesumsat­z im Sommer um die Hälfte gesunken“, sagt Mair.

Dabei plagen ihn eigentlich ganz andere Probleme. Ein Herzinfark­t, zwei Wochen ist das her. Mair erwähnt das beiläufig und sagt: „Aber da muss man durch.“Für die Straße, an der sein Gasthof liegt, gilt das ab Weihnachte­n nicht mehr. Denn hier kann bald keiner mehr durch, auch wenn das eigene Navi da durch will … Man kann sich leicht ausmalen, was das auf Dauer für den Neuwirt bedeutet.

„Der Umsatzrück­gang durch die Tagesgäste ist schon massiv.“

Karl Mair

„Samstags im Winter ist es brutal. Da steht hier dann alles.“

Sertac Bagkan

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Archivfoto: Zeitungsfo­to.At/Daniel Liebl/APA/dpa Ab hier ist für Fernreisen­de Schluss: Zwischen Juni und September hatte Tirol an den Wochenende­n Fahrverbot­e auf den Landstraße­n verhängt. Zwischen Weihnachte­n und Ostern ist es wieder so weit.
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