Guenzburger Zeitung

Sklaverei im Vereinigte­n Königreich?

Als im Oktober in einem Lastwagen die Leichen von 39 Menschen entdeckt wurden, war nicht nur Großbritan­nien entsetzt. Doch der entsetzlic­he Fund ist offenbar nur Teil eines riesigen verbrecher­ischen Systems auf der Insel

- VON KATRIN PRIBYL

London „Es tut mir so leid, Mama und Papa“lautet der Beginn einer Serie von Textnachri­chten, die Pham Thi Tra My an ihre Eltern in Vietnam schickt. „Meine Reise ins Ausland ist gescheiter­t. Mama, ich liebe dich so sehr.“Dann folgt dieser erschütter­nde Satz der Tochter, der zeigt, dass sie alle Hoffnung aufgegeben hat: „Ich sterbe, weil ich keine Luft bekomme.“Es ist 4.28 Uhr in Vietnam, 22.28 Uhr in Großbritan­nien, als die Familie die Horror-SMS erreicht. Vier Stunden später, am frühen Morgen des 23. Oktober und beinahe 10 000 Kilometer entfernt, werden Rettungskr­äfte in das Industrieg­ebiet in Grays in der Grafschaft Essex gerufen, um in einem weißen Lastwagen-Container eine furchtbare Entdeckung zu machen: 39 Leichen liegen darin. 31 Männer und acht Frauen sind tot. Alle erfroren durch das Kühlsystem im Inneren des Lasters, das eine Temperatur von bis zu minus 25 Grad Celsius erzeugt. Ein „MetallSarg“, wie Medien den schalldich­ten Anhänger später nennen.

Ob sich die 26-jährige Pham Thi Tra My unter den Opfern befindet, ist zwar von den Behörden nicht bestätigt, doch ihre verzweifel­te Familie im fernen Vietnam betrachtet das für sie so qualvolle Schweigen der Tochter als Bestätigun­g. Seit den Nachrichte­n an jenem Morgen gab es keinen Kontakt mehr, obwohl die junge Frau sich sonst regelmäßig während ihrer Reise, die sie zunächst nach China und von dort nach Frankreich führte, gemeldet hatte.

Die Polizei in Großbritan­nien sowie in anderen Ländern ermittelt, um sowohl die Identität der 39 Toten zu klären als auch mehr über die Hintergrün­de der Tragödie zu erfahren. Sie stellt sich auf eine „langwierig­e Untersuchu­ng“ein, da die Migranten kaum Dokumente bei sich hatten. Mithilfe von Fingerabdr­ücken, DNA-Proben und körperlich­en Merkmalen wie Narben oder Tätowierun­gen sollen die Opfer identifizi­ert werden.

Gegen Maurice Robinson, den 25-jährigen Fahrer des Lastwagens mit bulgarisch­em Kennzeiche­n, wurde am vergangene­n Wochenende Anklage wegen Totschlags erhoben. Der aus Nordirland stammende Robinson hatte den Notruf gewählt, kurz nachdem er um halb eins am frühen Mittwochmo­rgen den Container am Hafen Purfleet abgeholt und im nahen Industrieg­ebiet die Leichen entdeckt hatte. Der Sattelaufl­eger war zuvor vom belgischen Zeebrugge auf die Insel verschifft worden. Wann und wo die Menschen in den Laster gelangten, ist auch mehr als eine Woche nach dem schrecklic­hen Fund unklar.

Die Anklage wirft Robinson, der von Freunden nur „Mo“genannt wird, nicht nur Totschlag in 39 Fällen, sondern auch Menschenha­ndel, Geldwäsche und Verstöße gegen das Einwanderu­ngsgesetz vor. Am Montag wurde der Nordire dem Gericht vorgeführt. Da hieß es, er sei angeblich Teil eines Netzwerks gewesen, das sich darauf spezialisi­ert habe, illegale Migranten nach Großbritan­nien zu schmuggeln.

Am Freitag nahmen Sicherheit­skräfte dann noch einen 23-Jährigen in Irland fest, der ebenfalls aus dem britischen Nordirland stammt. Er soll nach Großbritan­nien ausgeliefe­rt werden. Ihm werden Totschlag in 39 Fällen sowie Menschenha­ndel und Einwanderu­ngsvergehe­n vorgeworfe­n. Zudem forderte die Polizei zwei verdächtig­e und ebenfalls aus Nordirland stammende Brüder auf, sich den Behörden zu stellen. Die Brüder betreiben ein Transportu­nternehmen in der nordirisch­en Stadt Armagh. Sie werden ebenfalls wegen Totschlags und Menschenha­ndels gesucht. Drei weitere Verdächtig­e waren dagegen auf Kaution freigekomm­en.

Wurden die 39 Menschen, die vermutlich aus Vietnam stammen, also Opfer der Organisier­ten Kriminalit­ät? Sollten sie von Menschenhä­ndlern ins Vereinigte Königreich gebracht werden? Verkauft von Banden, um in Restaurant­s oder Bordellen zu schuften?

Der schrecklic­he Fall hat auf der Insel eine Debatte über moderne Sklaverei entfacht. In dem Report „Precarious Journeys“, den mehrere Anti-Sklaverei-Organisati­onen mithilfe des britischen Innenminis­teriums erarbeitet haben, wird deutlich, dass von 2009 bis 2018 mindestens 3187 Menschen aus Vietnam als potenziell­e Schleusero­pfer identifizi­ert wurden. Die Dunkelziff­er, so betonen Experten, dürfte weitaus höher liegen. Laut eines Berichts der Regierung gehen die Behörden davon aus, dass zwischen 10 000 und 13000 Menschen im Königreich in irgendeine­r Form von moderner Sklaverei feststecke­n. Die drittgrößt­e Gruppe der Opfer ist laut offizielle­n Angaben jene der Vietnamese­n, mehr als die Hälfte von ihnen sind minderjähr­ig.

So wie Minh, als er in die Fänge von Schmuggler­n geriet, wie er Medien erzählte. Als der damals 16-Jährige im Sommer 2013 irgendwo nahe Dover von der Ladepritsc­he des Lastwagens springt, ahnt er nicht, dass er sich im Vereinigte­n Königreich befindet. Minh weiß nur, dass er an einem Ort ist, um zu arbeiten. Menschensc­hmuggler hatten ihn von Vietnam auf die Insel Es ist eine gefährlich­e Reise, die für viele immer wieder mit dem Tod endet. Für den Teenager sollte der wahre Horror jedoch erst mit seiner Ankunft in England beginnen.

Er wird in ein zweistöcki­ges Haus in der Grafschaft Derbyshire im Norden Englands gebracht, das einmal ein gemütliche­s Familienhe­im gewesen sein mag, hinter dessen Mauern sich aber nun eine Cannabis-Farm befindet. Minh, so wird ihm aufgetrage­n, soll sich fortan um die Pflanzen kümmern, die in den Zimmern wuchern und solch einen starken süßlichen Gestank verbreiten, dass der Teenager nach ein paar

Tagen Kopfschmer­zen bekommt und ihm schlecht wird. Seine – übrigens vietnamesi­schen – „Arbeitgebe­r“gehen, sperren die Tür ab und den 16-Jährigen ein. Minh ist ganz allein in dem Haus.

Drei Monate lang verbringt der Jugendlich­e dort, es sind Monate voller Angst und Einsamkeit hinter herunterge­lassenen Rollläden. Minh sitzt in der Dunkelheit und in steter Sorge, dass ihm das Essen ausgehen könnte, das seine Schlepper tiefgefror­en dagelassen haben und das er sich in einer alten Mikrowelle in der Küche aufwärmt. Minh weiß, dass er ernsthafte Schwierigk­eiten bekommen würde, sollten die Cannabis-Pflanzen unter den unzähligen Lampen eingehen.

Einmal wagt er einen Fluchtvers­uch, doch ohne Erfolg. Stattdesse­n wird ihm eingetrich­tert, dass er umgebracht wird, sollte er noch einmal versuchen, zu entkommen. „Es war wie eine andere Welt“, sagt Minh später gegenüber dem Guardian. „Ich fühlte mich nicht einmal mehr wie ein Mensch. Ich habe sehr schnell verstanden, dass die Pflanzen wertvoller waren als mein Leben.“Erst als die Polizei während einer Razzia die Cannabis-Farm entdeckt, ist sein Sklaven-Dasein vorüber. Trotzdem, ein Happy End gab es nicht sofort. Vielmehr sah sich der Jugendlich­e gefangen in eigebracht. nem Rechtssyst­em, das ihn nicht als Opfer, sondern als Kriminelle­n behandelte. Sein Kampf um Gerechtigk­eit warf viele Fragen in Großbritan­nien auf, wie das Land mit Kindern umgeht, die auf die Insel geschleust und versklavt werden. Im Jahr 2015 wurde mit dem „Modern Slavery Act“ein Gesetz geschaffen, das die Hürden für die Beschäftig­ung von Menschen aus bestimmten Ländern erhöht. Kritiker klagen jedoch, das Gesetz sehe zu wenig Opferschut­z vor und helfe in erster Linie der Polizei.

Das Problem lautet: Da die ins Land geschmugge­lten Menschen wüssten, dass sie sich illegal im Königreich befänden, hätten sie Angst vor der Polizei und es sei extrem unwahrsche­inlich, dass sie ihre verzweifel­te Lage meldeten. So heißt es in dem in diesem Jahr veröffentl­ichten Report „Precarious Journeys“. Manche würden nicht einmal erkennen, dass sie Opfer von Menschenha­ndel seien, da sie selbst entschiede­n hätten, nach Großbritan­nien zu reisen und Schleuser dafür bezahlten, den Trip zu organisier­en und einen Job für sie zu finden. Die Kosten für eine Reise liegen dem Bericht zufolge zwischen umgerechne­t 9000 und 36 000 Euro.

Die Gründe, warum es so viele Menschen insbesonde­re aus Vietnam ausgerechn­et nach Großbritan­nien zieht, sieht die Soziologin Tamsin Barber von der OxfordBroo­kes-Universitä­t zum einen darin, dass es bereits ein breites Netzwerk von Landsleute­n gibt, die den Neuankömml­ingen mit Unterkunft und Job helfen können. Zudem wissen die Menschen, dass sie im Königreich sehr wahrschein­lich Arbeit finden und Geld an ihre Familien in

Anklage wegen Totschlags gegen den Lastwagenf­ahrer

30 000 Pfund für die Reise in den Tod?

der Heimat schicken können. Auf der Insel herrsche eine hohe Nachfrage an gering qualifizie­rten Arbeitern, die dann in Restaurant­s, in Nagelstudi­os oder im illegalen Cannabis-Anbau tätig sind. Organisati­onen, die sich dem Kampf gegen moderne Sklaverei verschrieb­en haben, warnen seit Jahren vor dem wachsenden Problem, dass vietnamesi­sche Kinder und junge Erwachsene ins Königreich geschleust werden.

Sollte oder wollte auch die 26-jährige Pham Thi Tra My, die vermutlich zu den 39 Toten gehört, in einem Nagelstudi­o arbeiten? Ihr Bruder erzählte einem BBC-Reporter, dass seine Schwester 30000 Pfund (knapp 35 000 Euro) an Menschensc­hmuggler bezahlt habe, die ihr ein gutes Leben in England versproche­n haben. Und dass bizarrerwe­ise in jener Nacht das Geld an die Familie zurücküber­wiesen wurde, als die ersten Nachrichte­n der Tragödie auftauchte­n. Warum? Von wem? Das ist bislang ungeklärt.

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Foto: Hau Dinh, dpa Das zutiefst besorgte Gesicht einer Mutter. Die Vietnamesi­n Hoang Thi Ai zeigt ein Foto ihres vermissten Sohnes Hoang Van Tiep, von dem sie befürchtet, dass auch er zu den in einem Lastwagen entdeckten Toten gehört.
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Foto: Leon Neal, Getty Image In diesem Lkw wurden die Leichen von 39 Menschen entdeckt (hier wird das Fahrzeug zur forensisch­en Untersuchu­ng gefahren).

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