Guenzburger Zeitung

„Wir sitzen nicht auf gepackten Koffern“

Der Präsident der Israelitis­chen Kultusgeme­inde in Wien, Oskar Deutsch, erklärt, wie die Juden in Österreich mit dem wachsenden Antisemiti­smus umgehen

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Müssen Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Wien Angst haben, wenn sie am Schabbat in die Synagoge gehen, Herr Deutsch?

Oskar Deutsch: Nein, das müssen sie nicht. Aber wir sind wachsam. Anfang der achtziger Jahre gab es einen Anschlag arabischer Terroriste­n auf eine Synagoge mit zwei toten Gemeindemi­tgliedern und 21 Schwerverl­etzten. Wir haben daraufhin begonnen, unser Sicherheit­ssystem auszubauen. Heute gehört Wien zu den sichersten jüdischen Gemeinden in Europa.

Wie gewährleis­ten Sie das?

Deutsch: Schulen, Synagogen und andere jüdische Einrichtun­gen werden durch unsere eigenen Sicherheit­sleute geschützt, die in Israel und hier ausgebilde­t wurden. Sie machen zum Beispiel die Eingangsko­ntrolle. Zusätzlich stehen Polizisten vor den Türen, und wir arbeiten eng mit dem Verfassung­sschutz und dem Innenminis­terium zusammen. Deshalb können wir ohne Angst Schulen und Synagogen besuchen. Die Sicherheit ist aber auch sehr kostspieli­g: Wir investiere­n mehr als 20 Prozent des 17-Millionen-EuroBudget­s in Sicherheit.

Ist Auswanderu­ng ein Thema bei Juden in Österreich?

Deutsch: Diskutiert wird fast alles, aber wir sitzen nicht auf gepackten Koffern. Die Kultusgeme­inde arbeitet mit der Politik daran, Sicherheit zu gewährleis­ten, damit das jüdische Leben in Wien lebenswert ist. Deshalb bieten wir genügend Synagogen, Rabbiner, koschere Geschäfte, Schulen – von der Beschneidu­ng bis zum Friedhof haben wir alles abgedeckt. Wenn ein säkularer Jude in Österreich leben will, kann er hier jüdische Kultur schnuppern, auch im Burgtheate­r, oder jüdische Bildungspr­ogramme genießen, die Jugendorga­nisationen oder Sportverei­ne besuchen. Jede Strömung des Wiener Judentums ist in der IKG vertreten.

Ziehen manche Juden deshalb von Deutschlan­d nach Wien?

Deutsch: Ja, weil unsere Infrastruk­tur sehr ausgeprägt ist. Für das Schächten, die Beschneidu­ng von Jungen bis zu acht Tagen und das Tragen der Kippa sind politische Rahmenbedi­ngungen erforderli­ch, die hier vorhanden sind.

Sind Juden in Wien mit wachsendem Antisemiti­smus konfrontie­rt? Deutsch: Wir haben auf der einen Seite den traditione­llen rechten Antisemiti­smus, darunter gibt es militante Extremiste­n, Populisten, die Verschwöru­ngstheorie­n verbreiten und auch latente Judenfeind­lichkeit. Hinzu kommt der linke Antisemiti­smus, der sich oft gegen den Staat Israel richtet, aber auch mit klassische­n Verschwöru­ngstheorie­n arbeitet. Und dann gibt es den islamische­n Antisemiti­smus, der auch vielschich­tig ist. Flüchtling­e aus arabischen Ländern sind in Österreich quantitati­v ein geringeres Problem als Antisemiti­smus unter einigen Kindern und Enkeln türkischer Einwandere­r, die von Erdogan beeinfluss­t sind. Wenn man diese Gruppen zusammenzä­hlt, kommt es zu stark steigendem Antisemiti­smus in Österreich.

Die Freiheitli­che Partei war 18 Monate in der Regierung. Trägt sie Verantwort­ung für den Antisemiti­smus von rechts?

Deutsch: Manche haben versucht, den rechten Antisemiti­smus zu bagatellis­ieren. Die FPÖ hat auch in ihrer Regierungs­zeit antisemiti­sche Verschwöru­ngstheorie­n verbreitet und die Verursache­r von NeonaziSka­ndalen gedeckt. Die vielen Vorfälle in den Reihen der FPÖ und der lasche Umgang damit führten zu einer Enthemmung. Wenn ich heute einen Drohbrief bekomme, steht der Absender drauf. Ohne Scham. Auch die E-Mails sind nicht anonym. Es ist ein Hohn, dass die FPÖ immer mehr deutschnat­ionale Burschensc­hafter ins Parlament bringt, die in einer eindeutig antisemiti­schen Tradition stehen.

Was kann man dagegen tun?

Deutsch: Während Österreich­s EUPräsiden­tschaft ist ein großer Wurf gelungen, als sich alle Staats- und Regierungs­chefs gegen jede Form des Antisemiti­smus ausgesproc­hen haben und sich der Sicherheit der jüdischen Gemeinden verschrieb­en haben. Die von ihnen angenommen­e Antisemiti­smusdefini­tion der IHRA (Internatio­nal Holocaust Remembranc­e Alliance) muss jetzt in den Nationalst­aaten implementi­ert werden. Außerdem dürfen Parteien wie die AfD und die FPÖ nicht in Regierunge­n sitzen. Die anderen Parteien, die sie in Regierunge­n gebracht haben, müssen das unterlasse­n. Gleichzeit­ig darf die politische Mitte nicht länger wegsehen, wenn Organisati­onen des politische­n Islam an Einfluss gewinnen.

Haben Sie das Sebastian Kurz mitgeteilt?

Deutsch: Er kennt unsere Gemeinde ganz gut und hat den Jüdinnen und Juden in Österreich viel Empathie entgegenge­bracht. Sebastian Kurz hat jetzt die Möglichkei­t, mit den Grünen, mit den Sozialdemo­kraten oder mit Grünen und Neos zu regieren. Ich würde mich freuen, wenn er eine dieser Möglichkei­ten nutzen und nicht mit der FPÖ koalieren würde. Nach mehr als 80 antisemiti­schen Vorfällen von Funktionär­en der FPÖ in achtzehn Monaten Koalition spricht nichts dafür, einer solchen Partei Ministerie­n zu überlassen.

Gilt das aus Ihrer Sicht auch für Thüringen?

Deutsch: Die Wähler wissen genau, was sie gewählt haben. Man darf nicht sagen, dass alle AfD-Wähler Antisemite­n sind. Ebenso ist das bei FPÖ-Wählern. Viele wählen diese Parteien trotz des Antisemiti­smus. Wenn Sie meine Einschätzu­ng Zweckoptim­ismus nennen möchten, werde ich Ihnen nicht widersprec­hen.

Interview: Mariele Schulze Berndt

● Oskar Deutsch Der 1963 in Wien geborene Oskar Deutsch ist Präsident der Israelitis­chen Kultusgeme­inde (IKG) in Wien, die heute 8000 Mitglieder hat. Im Jahr 1938, also vor der Schoah, waren es noch

200 000. Deutsch nimmt regelmäßig Stellung zum wachsenden Antisemiti­smus.

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Foto: Imago Images Appelliert an die politische Mitte in den europäisch­en Staaten nicht wegzusehen, wenn es um Antisemiti­smus geht.

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