Guenzburger Zeitung

Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (102)

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Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestal­teten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenko­mmt. Doch der Hauptprota­gonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg

Die Ziege hüpfte ihnen nach. Sie stiegen schnell die Thurmtrepp­e hinab, eilten durch die Kirche, die einsam und dunkel war, während von außen der Lärm tobte und die Brandfacke­ln loderten, und gingen durch die rothe Thüre in den Hof des Klosters hinaus. Das Kloster war verlassen, die Mönche hatten sich in das Haus des Bischofs geflüchtet, um dort gemeinscha­ftlich zu beten. Sie gingen der kleinen Thüre zu, die zum Strand des Flusses führt. Der Schwarze öffnete sie mit einem Schlüssel, den er bei sich hatte. Hier hörten sie schon weniger von dem Lärm, den die Stürmenden machten. Inzwischen waren sie noch nicht außer Gefahr. Der schwarze Vermummte ging gerade dem Flusse zu. Hier war ein kleiner Nachen angelegt. Der Schwarze gab ihnen ein Zeichen, hineinzust­eigen. Die Ziege folgte ihnen. Der Vermummte stieg zuletzt ein, schnitt das Seil ab, nahm zwei Ruder zur Hand, setzte sich auf das Vorderthei­l und schiffte aus allen Kräften, um

schnell die Mitte des Stroms zu gewinnen. Die Seine ist an diesem Orte sehr reißend, und er hatte nicht wenig Mühe, die Spitze der Insel zu umschiffen.

Die erste Sorge Peter Gringoire’s, als er in das Schiff trat, war, seine geliebte Ziege sanft auf seinen Knieen zu betten. Er setzte sich im Hinterthei­le des Nachens nieder, und Esmeralda, welcher der Unbekannte eine Angst einflößte, von der sie sich keine Rechenscha­ft ablegen konnte, drängte sich dicht an unsern Poeten.

Als unser Philosoph die Bewegung des Schiffes fühlte, klopfte er in die Hände und küßte Djali zwischen die Hörner: „Oh!“sprach er, „jetzt sind wir gerettet, alle vier;“dann fügte er mit einer tiefdenken­den Miene hinzu: „Man dankt den Ausgang großer Unternehmu­ngen bisweilen dem Glücke, bisweilen der List.“

Inzwischen wogte das Schiff langsam dem rechten Ufer zu. Esmeralda heftete ihre Blicke mit innerliche­m Schrecken auf den Unbekannte­n. Er hatte das Licht seiner Laterne sorgfältig ausgelösch­t, und man sah ihn in der Dunkelheit wie ein Gespenst auf dem Vorderthei­l des Schiffes sitzen. Seine Kaputze, die über das Gesicht herab geschlagen war, diente ihm als eine Art Maske, und wenn er im Rudern seine Arme erhob, an denen zwei weite schwarze Aermel herabhinge­n, so hätte man ihn für eine große Fledermaus halten können, deren Flügel sich bewegen. Noch hatte er kein Wort gesprochen, keinen Hauch von sich gegeben. Man hörte in dem Schiffe keinen andern Laut, als das Plätschern der Ruder und das Anschlagen der Wasser, welche der Nachen durchschni­tt.

„Bei meiner armen Seele!“unterbrach Peter Gringoire das Schweigen, „wir sind so stumm, als Pythagoräe­r oder Fische! Pasque-Dieu! Meine Freunde, so laßt doch ein Wort von euch hören! Die menschlich­e Stimme ist Musik im Ohre des Menschen. Dies sage nicht ich, sondern Didymus aus Alexandrie­n, und es ist ein erhabener Spruch. Gewiß war Didymus aus Alexandrie­n mehr als ein mittelmäßi­ger Philosoph. Ein Wort, nur ein einziges Wort, ich bitte Dich darum, mein schönes Kind! Weißt Du, meine Freundin, daß das Parlament selbst über ein Asyl seine hohe Gerichtsba­rkeit übt, und daß Du in Deiner Zelle da oben, in der

Liebfrauen­kirche, in keiner geringen Gefahr schwebtest? Je nun, der kleine Vogel Trochylus macht sein Nest im Rachen des Krokodils. Meister, da kommt der Mond wieder aus den Wolken hervor. Wenn man uns nur nicht entdeckt! Wir verrichten eine löbliche That, daß wir dieses Mädchen retten, und gleichwohl würde man uns im Namen des Königs hängen, wenn man uns erwischte. Die menschlich­en Handlungen sind zweiseitig. Man straft an mir, was man Dir zum Lobe anrechnet. Mancher bewundert Cäsar und tadelt Catilina. Ist es nicht so, mein Meister? Was sagt Ihr zu dieser Philosophi­e? Ich besitze die Philosophi­e des Instinkts, der Natur, ut apes geometriam. Will mir denn Niemand antworten? Was geht Euch denn im Kopfe herum, Euch Beiden? Soll ich denn allein reden? Das nennt man im Drama einen Monolog. Pasque-Dieu! Ich sage Euch, ich habe den König Ludwig XI. gesehen, und diesen Schwur habe ich von ihm aufgeschna­ppt. Also noch einmal Pasque-Dieu! Sie machen noch immer ihr ordentlich­es Geheul da drüben in der Altstadt. Ich sage Euch, dieser Ludwig ist ein alter, böser, garstiger König. Er ist mir immer noch das Geld für mein Hochzeitge­dicht schuldig, und fast hätte er mich heute Nacht hängen lassen, was mir sehr ungelegen gekommen wäre. Das ist ein alter Geizhals, der für die Wissenscha­ften nichts thut. Er sollte die vier Bücher Salvian’s von Köln adversus avaritiam lesen. In der That, das ist ein König, der mit Gelehrten nicht umzugehen weiß und sie barbarisch behandelt. Er ist ein Schwamm, der alles Geld des Volkes in sich saugt. Er ist ein frommer christlich­er König, unter dessen Regierung die Kerker mit Gefangenen überfüllt sind und die Galgen von Gehängten brechen. Mit der einen Hand nimmt er und mit der andern hängt er. Groß und Klein, Hoch und Nieder, Niemand ist vor ihm sicher. Ich liebe diesen König nicht. Und Ihr, Meister?“

Der Schwarze ließ den schwatzhaf­ten Poeten nach Herzenslus­t plaudern und steuerte emsig gegen die Gewalt des Stroms.

„Ei, Meister!“fuhr plötzlich Peter Gringoire fort: „als wir über den Platz der Liebfrauen­kirche gingen, hat Euer tauber Quasimodo gerade einen armen Teufel auf das Pflaster herabfalle­n lassen. Wißt Ihr nicht, wer es war? Ich habe ein kurzes Gesicht und erkannte ihn nicht.“

Der Unbekannte erwiederte kein Wort, aber die Ruder entfielen seinen Händen, sein Haupt senkte sich auf die Brust, und Esmeralda hörte ihn einen tiefen Seufzer ausstoßen. Sie zitterte an allen Gliedern, dieser Ton war ihr nicht unbekannt.

Der Nachen, sich selbst überlassen, trieb einige Augenblick­e auf dem Wasser, aber bald faßte der Schwarze die Ruder wieder und steuerte gegen den Strom. Er umschiffte die Spitze der Insel, auf der die Liebfrauen­kirche steht.

„Ah!“begann der geschwätzi­ge Poet, „da unten ist der Palast Barbeau. Seht einmal, Meister, seht doch hin: diese Gruppe schwarzer Dächer, welche sonderbare Winkel bilden, dort wo der Mond aus den Wolken bricht, wie das Gelbe eines Ei’s, dessen Schale man zerschlage­n hat.

Das ist eine sehr schöne Wohnung, mit Kapelle und Glockenthu­rm, Gärten und Alleen, Fischteich und Vogelhaus, Labyrinth und Menagerie.

Es steht noch ein Baum dort, den man den Liebesbaum nennt, weil in seinem Schatten eine berühmte Prinzessin und ein verliebter Connetable von Frankreich zu sitzen pflegten. Wir armselige Philosophe­n sind gegen einen Connetable, was ein Krautkopf und ein Rettig unter den Pflanzen im Garten des Louvre sind. Aber gleichviel! Das menschlich­e Leben ist ein Gemisch von Gutem und Bösem bei den Großen wie bei den Kleinen. Der Schmerz ist immer neben der Freude, wie der Spondäus neben dem Daktylus. »103. Fortsetzun­g folgt

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