Vom Todesstreifen zur Lebenslinie
30 Jahre nach dem Mauerfall ist die ehemalige Grenze der längste Biotopverbund Deutschlands. Hier gedeihen Arten, die anderswo bereits verschwunden sind. Nun wollen Umweltschützer das Projekt weit über Deutschland hinaus ausdehnen
Davon können viele andere Regionen in Deutschland nur träumen: An der einstigen innerdeutschen Grenze in SachsenAnhalt sind die Bestände des Braunkehlchens in den letzten Jahren stark gestiegen. In einem Projektgebiet nördlich von Salzwedel hat sich die Zahl der Brutreviere nach Angaben des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) von 2016 bis 2019 fast verdreifacht – von 23 auf 65. Die Zahl der Jungen stieg in dem 2200 Hektar großen Areal sogar noch stärker – von 48 auf 170.
Solche Zunahmen sind keinesfalls selbstverständlich in einer Zeit, in der ein großes Vogel- und Insektensterben beklagt wird. Auch das Braunkehlchen (Saxicola rubetra) steht auf der Roten Liste der gefährdeten Arten, seine Bestände sind in den vergangenen Jahren vielerorts eingebrochen. Als Bodenbrüter ist es insbesondere durch intensive Landwirtschaft bedroht. Entlang des einstigen Todesstreifens findet der kleine Vogel mit der orangefarbenen Brust und dem weißen Streifen über den Augen aber noch ideale Bedingungen: In der offenen und halboffenen Landschaft kann er von seinen Sitzwarten auf Pfählen oder einzeln stehenden Bäumen das Gelände überblicken. Und weil keine Pestizide ausgebracht werden, gedeihen hier besonders viele Pflanzenund damit auch Insektenarten. Davon profitieren auch andere Vögel wie etwa Neuntöter, Raubwürger und Ziegenmelker.
Wie kaum eine andere Art repräsentiert das Braunkehlchen das Grüne Band – die ehemalige deutschdeutsche Grenze, die sich über fast 1400 Kilometer vom Vogtland über Eichsfeld, Harz und Altmark bis zur Ostsee hin erstreckt. „Das Braunkehlchen ist die Charakterart des Grünen Bands“, sagt Dieter Leupold, beim BUND Projektleiter für das Grüne Band Sachsen-Anhalt. Das hängt auch mit der Geschichte der Grenze zusammen.
Schon lange vor dem Mauerfall wussten Umweltschützer, dass entlang des 50 bis 200 Meter breiten Todesstreifens Arten gedeihen, die andernorts längst verschwunden sind. „Das Wissen über die besondere Qualität, die sich im Schatten der Grenze erhalten hatte, hatten wir schon in den 1970er Jahren durch Vogelkartierungen“, sagt der BUND-Vorsitzende Hubert Weiger. „Am Vorkommen der Braunkehlchen konnte man schon damals den Grenzverlauf nachziehen.“So makaber es klingt: Mit der Vertreibung zehntausender Menschen, der zunehmend hermetischen Abriegelung der Grenze und einer fünf Kilometer breiten Sperrzone schuf das DDR-Regime unbeabsichtigt Rückzugsräume für gefährdete Pflanzen und Tiere. „Entwicklungen, die es in unserer Landschaft gegeben hat, wie etwa intensive Landwirtschaft, Entwässerung, Düngung oder Pestizide, gab es entlang der Grenze nicht“, sagt Weiger. „Weil der Lebensraum keinem besonderen Druck ausgesetzt war, konnten sich sensible Arten dort aufhalten. So wurde die brutale Grenze, an der mehr als 300 Menschen umkamen, zu einem Überlebensraum für bedrohte Pflanzen und Tiere.“
Die zweite Besonderheit des Grünen Bands sind seine Länge und vielfältigen Landschaften. Auf 1393 Kilometern quert es sämtliche in Deutschland vorkommenden Landschaftstypen – ausgenommen Hochgebirge und Wattenmeer. „Das Grüne Band ist der längste zusammenhängende Lebensraumverbund in Deutschland“, sagt Weiger. „Es enthält fast 150 verschiedene Lebensraumtypen, vom Moor über Magerrasen und Mittelgebirge bis zu Zwergstrauchheiden und Dünen.“Insgesamt leben auf dem schmalen Streifen etwa 5200 Tierund Pflanzenarten, 1200 davon gelten auf der Roten Liste als gefährdet. Und durch den Verbund der Biotope ist das Grüne Band mehr als die Summe seiner Teile. „Die Verzahnung ist wichtig für den genetischen Austausch“, sagt Leupold. „Für viele Arten ist das Grüne Band ein Wanderkorridor.“
Werden Tierpopulationen etwa an Tümpeln durch Trockenheit einmal ausgelöscht, können danach
Artgenossen aus benachbarten Arealen einwandern. „Wenn ausgetrocknete Feuchtgebiete nicht mit anderen Gegenden vernetzt sind, wird da kein Frosch mehr hinfinden“, erläutert Leupold. Das gleiche gelte für andere Amphibien, Reptilien, Fische und viele Insekten. „Zusammenhängende Lebensräume über 60 oder 70 Kilometer sind in unserer stark genutzten Landschaft etwas sehr Kostbares geworden“, betont Weiger. So hat sich etwa in der nördlichen Altmark, das von Grabensystemen durchzogen wird, der Fischotter ebenso gehalten wie zwei Libellen, die Vogel-Azurjungfer und die Helm-Azurjungfer. Die drei Arten sind in Deutschland vom Aussterben bedroht.
Die Forderung, den Grenzstreifen unter Schutz zu stellen, kam direkt nach dem Mauerfall auf. Schon am 9. Dezember 1989 lud der BUND zu einem Treffen nach Hof – es wurde die Geburtsstunde der Idee zum Grünen Band. „Wir hatten damals mit insgesamt 40 Leuten gerechnet“, erinnert sich Weiger. „Gekommen sind dann 400, die allermeisten aus der DDR.“In einer Resolution forderten die Teilnehmer, den Grenzverlauf in seiner gesamten Länge als Lebensraumverbund unter Schutz zu stellen. „Es gab damals in der DDR eine sehr engagierte Umweltbewegung“, erinnert sich der damalige Bundesumweltminister Klaus Töpfer. „Die waren bestens informiert. Das Grüne Band war weniger ein Staatsprojekt als vielmehr ein Projekt von Bürgerinnen und Bürgern.“
Doch die Umsetzung erwies sich als überaus zäh. Problematisch waren in den Anfangsjahren insbesondere die lange Zeit ungeklärten Eigentumsverhältnisse entlang der ehemaligen Grenze. „Damals kamen viele zurückgegebene und erworbene Grundstücke legal und manche anderen Flächen illegal unter den Pflug“, sagt Karin Ullrich vom Bundesamt für Naturschutz (BfN). „Das gilt insbesondere für Regionen mit besonders fruchtbaren Böden wie in den Bördelandschaften im nördlichen Harzvorland.“Bis heute ist Sachsen-Anhalt das Bundesland, in dem das Grüne
Band die größten Lücken aufweist – auf etwa 100 der insgesamt 343 Kilometer.
Erst als Bestandsaufnahmen des gesamten Grünen Bandes den Naturschutzwert bestätigten, folgte bis 2006 ein Verkaufsstopp. Bis 2010 übertrug der Bund seine Flächen an die jeweiligen Bundesländer. Doch große Lücken klaffen noch immer – auch wenn der BUND seit dem Jahr 2000 bundesweit etwa 1000 Hektar entlang der ehemaligen Grenze oder in der Nachbarschaft angekauft hat. Zurzeit gelten etwa zwölf Prozent des Grünen Bands als beeinträchtigt bis zerstört – vor allem durch Straßen, zwölf Autobahnen, Gewerbegebiete und intensive Landwirtschaft. „Der Zustand ist sehr heterogen“, sagt BfN-Expertin Ullrich. „Aber insgesamt ist das Grüne Band als Biotopverbund in großen Teilen noch erhalten.“Thüringen, das mit 763 Kilometern mehr als die Hälfte des Streifens stellt, hat seinen Teil im November 2018 als Nationales Naturmonument ausgewiesen – diese Schutzkategorie berücksichtigt auch den kulturhistorischen Wert eines Gebiets. Sachsen-Anhalt will bis zum 30. Jahrestag des Mauerfalls nachziehen. Bis zum Jubiläum der Einheit am 3. Oktober 2020, so hofft der BUND-Vorsitzende Weiger, könnte das Grüne Band auf seiner gesamten Länge Nationales Naturmonument werden.
Im Gegensatz zu den Nationalparks mit ihrem Motto „Natur Natur sein lassen“steckt hinter dem Nationalen Naturmonument jedoch eine andere Absicht: Der Grenzstreifen soll nur vereinzelt sich selbst überlassen bleiben, andernfalls würde er verbuschen und verwalden. „Wo es praktikabel ist, wollen wir das Grüne Band offen oder halboffen erhalten“, sagt Ullrich und verweist auf eine extensive Beweidung als ideales Instrument dafür. Halboffene Areale bilden – im Gegensatz zu geschlossenem Wald – einen Korridor für viele Arten, sind aber umgekehrt kein Hindernis für Waldbewohner oder Offenlandbewohner. Insofern sind behutsame Eingriffe durch den Menschen ausdrücklich erwünscht.
Leupold setzt in Sachsen-Anhalt auf eine mit den Landwirten abgestimmte Nutzung. So sollen Flächen, auf denen Braunkehlchen Nester haben, während der Brutzeit von Juni bis Mitte Juli nicht gestört werden. Und in den Gräben der nördlichen Altmark wird gelegentlich gemäht und Kraut entfernt, damit das Wasser fließen kann. „Der Wasserfluss muss gewährleistet sein“, sagt Leupold. Nur so werde sichergestellt, dass FließgewässerLibellen wie Helm- und VogelAzurjungfer gute Lebensbedingungen haben.
Inzwischen reicht der Blick der Umweltschützer zudem weit über Deutschland hinaus: Ihnen schwebt ein Grünes Band Europa vor, das eines Tages vom Nördlichen Eismeer über 12500 Kilometer bis zum Schwarzen Meer reichen soll. „Wir hoffen dringend, dass die EU-Kommission das Grüne Band Europa zu einem europäischen Gesamtprojekt macht, auch um das Zusammenwachsen Europas zu dokumentieren“, sagt Weiger. Dazu haben sich bereits Länder wie Österreich und Finnland bekannt. Weiger hofft auf Unterstützung der designierten Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und auf die deutsche Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte 2020.
So wünschenswert die Vorstellung klingt: Die Umsetzung dieses Mammutvorhabens, das dutzende Anrainerstaaten betrifft, dürfte wohl weit länger dauern als beim – noch immer unvollendeten – Grünen Band Deutschland.
Einen solchen Lebensraumverbund quer durch Europa findet Töpfer reizvoll – auch wegen der Symbolik, dass die Natur letztlich Zäune und Mauern überwinden kann. Dass die Umsetzung viel Zeit bräuchte, schreckt den langjährigen Chef des UN-Umweltprogramms (UNEP) nicht: „Wir sind eine ungeduldige Gesellschaft: Wir wollen am liebsten alles haben, und zwar sofort“, sagt Töpfer. „Aber für manche Projekte braucht man einen langem Atem.“