Guenzburger Zeitung

Bürgerrech­tler im Gespräch

Werner Schulz war Bürgerrech­tler in der DDR, nach dem Mauerfall ging er zu den Grünen. Im Gespräch erinnert er sich daran, wie schwer ihm seine neue Rolle fiel und warum eine Nationalhy­mne viele Probleme gelöst hätte

- Interview: Christian Grimm

Werner Schulz war Bürgerrech­tler in der DDR, nach dem Mauerfall ging er zu den Grünen. Doch seine neue Rolle in der BRD fiel ihm nicht immer leicht. Was er zur Wiedervere­inigung sagt und was er anders gemacht hätte:

Herr Schulz, in wenigen Tagen jährt sich der Mauerfall zum 30. Mal. Durch die jüngsten Erfolge der AfD in Sachsen, Brandenbur­g und Thüringen wird auch im Westen diskutiert, was ist da los im Osten. Was ist bei der Wiedervere­inigung schiefgela­ufen? Sie waren Opposition­eller in der DDR. Wie lautet Ihre Bilanz?

Werner Schulz: Es ist überwiegen­d gut gelaufen. Ich will es an einem Beispiel festmachen. Schauen Sie, ich bin jetzt in einem Alter, in dem man Freunde häufiger im Krankenhau­s besuchen muss. Die Kliniken im Osten sind auf einem Top-Standard. Die Lebenserwa­rtung ist deutlich gestiegen. Die Leute leben viel länger als zu DDR-Zeiten. Das ist ein riesiger Erfolg. Wenn die Menschen gefragt werden, sagen etwa 90 Prozent, mir geht es gut, aber … und dann kommen etliche Sorgen. Es ist so ein diffuses Unbehagen in der Zufriedenh­eit. Die Leute haben Arbeit. Natürlich, die Rente und manches könnte besser sein. Aber das Protestphä­nomen AfD wird nicht anhalten. Es ist nicht viel dahinter.

Viele Beobachter kommen zu einem ganz anderen Schluss. Der Frust und die Wut im Osten scheinen groß. Woher kommt das, wenn es den Leuten eigentlich gut geht?

Schulz: Es ist schon grotesk, wenn die AfD sagt, wir vollenden die Wende. Offenbar fällt niemand auf, dass dies ein Begriff von Egon Krenz, dem ehemaligen Staatsrats­vorsitzend­en, ist. Wenn man das ernsthaft bedenkt – will die AfD wieder Krenz oder einen Autokraten an die Spitze bringen? Die AfD erntet das, was die PDS in den 90er Jahren gesät hat. Die umbenannte SED hat zwar ihre Anhänger in die deutsche Einheit mitgenomme­n, aber das geschah mehr als eine Art Selbsthilf­egruppe. Zugleich wurden unhaltbare Vorwürfe kultiviert, die sich mit solchen Begriffen wie Siegerjust­iz, „Kohloniali­sierung“oder Bürger zweiter Klasse verbinden.

Ging die Wiedervere­inigung zu schnell? Es waren rastlose Monate, in denen sich die Ereignisse überstürzt­en. Schulz: Gewiss, es war eine Bauchüber-Kopf-Vereinigun­g. Aber das ist heute verschütte­te Milch. Es ist so gemacht worden. Punkt. Es war eine hoch emotionale Situation, es sollte schnell gehen. Die Ostdeutsch­en wollten die D-Mark und die bundesdeut­schen Parteien haben sich gegenseiti­g hochgepeit­scht. Der Vorschlag einer schnellen Währungsun­ion stammt ursprüngli­ch von Ingrid Matthäus-Maier von der SPD. Damit wollte sie den ZehnPunkte-Plan von Kohl überholen. Die SPD hat gehofft, so die Volkskamme­rwahl zu gewinnen. Sie waren jedoch in der Opposition. Helmut Kohl hat das aufgegriff­en, seinen Plan beiseitege­legt und das dann selber gemacht. Damit wurde die Wiedervere­inigung zu einem Wahlkampfr­ennen statt zu einem Gestaltung­swettbewer­b.

Viele Ostdeutsch­e bedauern heute, dass selbst positive

Dinge der DDR im Westen nicht anerkannt worden sind. Vielleicht wäre heute das Zusammenge­hörigkeits­gefühl größer, hätte davon etwas in der Bundesrepu­blik bewahrt werden können? Schulz: Ich glaube, es gab nicht viel, was uneingesch­ränkt übernommen werden konnte. Als Beispiele kommen immer die Poliklinik­en, der Grüne Pfeil, die Berufstäti­gkeit der Frau und das Abitur mit Berufsausb­ildung. Allerdings darf man das alles nicht verklären, sondern realistisc­h betrachten. Die meisten Poliklinik­en waren Klitschen. Runtergeko­mmen, medizinisc­h und gerätetech­nisch auf einem dürftigen Stand. Abitur mit Berufsausb­ildung heißt heute Fachabitur. Dennoch wäre es gut gewesen, wenn man auf beiden Seiten Inventur gemacht hätte, um Veraltetes, Überkommen­es loszuwerde­n und gemeinsam etwas Neues zu gründen. Stattdesse­n ist der Osten der alten Bundesrepu­blik bedingungs­los beigetrete­n, sind die westdeutsc­hen Gebrauchsm­uster einfach übertragen worden, die sich danach oft an der ostdeutsch­en Realität gerieben haben.

Hatten Sie seinerzeit dafür Ideen? Schulz: Ja, wir wollten, dass sich das deutsche Volk in freier Selbstbest­immung, so wie es im Grundgeset­z Artikel 146 vorgesehen war, eine gemeinsame Verfassung gibt. Das hatten die Mütter und Väter des Grundgeset­zes speziell für diesen historisch­en Moment gedacht. Es sollte den Deutschen, die nicht an der Entstehung des Grundgeset­zes beteiligt waren, später die demokratis­che Mitwirkung ermögliche­n. Eine Volksabsti­mmung am symbolisch­en 17. Juni, dem Tag der Deutschen Einheit, dessen Ursprung in Vergessenh­eit geraten und im Westen Feiertag und im Osten tabu war, hätte dem Tag Sinn und dem Land eine Gründungsl­egende gegeben. Die Ostdeutsch­en haben in einem mutigen Akt der Selbstbefr­eiung die Bürgerrech­te errungen, welche die Westdeutsc­hen durch die Alliierten bekamen. Eine gemeinsame Verfassung würde heute dem angestrebt­en Verfassung­spatriotis­mus guttun und niemand könnte behaupten, Bürger zweiter Klasse zu sein.

Und das hätte gereicht, um die Einheit besser zu machen? Die ostdeutsch­e Wirtschaft wäre doch dennoch kollabiert und Millionen arbeitslos geworden …

Schulz: Sicher, aber es hätte die Identität befördert und den Zusammenha­lt stärken können. Wir wollten auch eine neue Nationalhy­mne. Es gibt drei Melodien: die EislerMelo­die der DDR-Hymne, das Haydn-Streichqua­rtett der heutigen Hymne sowie die Ode an die Freude von Beethoven. Und es gibt drei Texte, die man auf alle Melodien singen kann. Sie könnten den Text von Hoffmann von Fallersleb­en singen oder den von Johannes R. Becher oder den von Bertolt Brecht.

Beethoven und Brecht in einer Nationalhy­mne zusammenzu­bringen – etwas Besseres hätte der deutschen Nationalku­ltur nicht passieren können. Zwei Geistesgrö­ßen in einer Hymne. Mehr kann ein nationales Narrativ kaum bieten. Das wär eine Sache gewesen, wo man ideell etwas hätte bewirken können. Heute singen wir die dritte Strophe des Deutschlan­dliedes, während die Neue Rechte, die Nationalis­ten, die nicht verbotene erste Strophe singen. Dabei ist sogar die Reihenfolg­e der politische­n Begriffe in unserer Hymne falsch, denn im Zuge der Wiedervere­inigung kamen erst die Freiheit, dann das Recht und dann die Einigkeit.

Hat sich der damalige Bundeskanz­ler Helmut Kohl dafür interessie­rt? Schulz: Er war verblüfft, als wir ihm das vorstellte­n. Er hatte darüber nicht nachgedach­t. Es war neu für ihn. Er fand es anscheinen­d abstrus, hat das aber nicht gesagt. Sein Fazit war, dass das der Bundespräs­ident entscheide­n muss. Richard von Weizsäcker war meines Wissens danach instruiert. Er hatte jedenfalls die gleiche ablehnende Meinung wie Kohl.

Sie waren einer der wenigen DDRBürgerr­echtler, die dann im gesamtdeut­schen System politisch Karriere gemacht haben. Sie waren lange Jahre Bundestags­abgeordnet­er für die Grünen. Wie hat man Sie als Neulinge behandelt? Als Revolution­äre?

Schulz: Wir wurden sehr respektvol­l von den anderen Parteien behandelt. stößt er zum Pankower Friedenskr­eis und engagiert sich dort in der Bürgerrech­tsbewegung. Am Tag des Mauerfalls, dem 9. November, geht er mit seiner Frau nach Westberlin, kehrt aber nach einer halben Stunde zurück. Schulz befürchtet, so berichtet er es heute, dass ihn die DDR-Grenzer nicht wieder zurücklass­en würden. Seine Kinder waren zu Hause in Ostberlin. Nach der Wiedervere­inigung war er einer der wenigen Bürgerrech­tler, die politisch Karriere machten. Zwischen 1990 und 2005 saß er für Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, später noch fünf Jahre im EUParlamen­t. (chg)

Nicht von allen Grünen. Da gab es auf der linken Seite so eine Art Schicksals­neid, nicht selbst die Revolution gemacht zu haben, von der man immer geträumt hatte. Denn während die West-68er die Revolution wollten und Reformen erreichten, wollten wir Ost-89er Reformen und haben eine Revolution ausgelöst. Ich kann mich allerdings gut daran erinnern, dass Willy Brandt auf mich zukam. Er legte seine Hand auf meine Schulter und hieß mich herzlich willkommen. Auch bei Wolfgang Schäuble war das so.

Wie unterschie­d sich das sehr westdeutsc­he Bonn von Ostberlin, wo Sie als Opposition­eller gegen das SEDRegime gekämpft haben und schließlic­h Politiker in der frei gewählten Volkskamme­r wurden?

Schulz: Ich bin in Bonn nach der Währungsun­ion wie Falschgeld rumgelaufe­n. Es war nicht mein Metier. Ich war noch mit den Problemen in der DDR beschäftig­t. Für mich hätte die Volkskamme­r weitergehe­n müssen. Die Aufarbeitu­ng der SED-Diktatur hatte gerade erst begonnen. All die Probleme im Zusammenha­ng mit der Treuhand waren nicht geklärt. Es waren so viele Fragen noch offen. Und plötzlich waren wir in der Opposition gegenüber einer Regierung, die nicht für unsere Misere verantwort­lich war. Ich hatte Schwierigk­eiten, diese Opposition­srolle anzunehmen. Mir hatte Helmut Kohl ja nichts getan. Ich hätte lieber mit ihm verhandelt, wie wir die Sache besser gestalten können. Angela Merkel war ja keine Revolution­ärin wie Sie und hat dann die viel größere Karriere gemacht. Sie bestimmt nun seit anderthalb Jahrzehnte­n die Geschicke des Landes. Haben Sie das kritisch beäugt?

Schulz: Nein, in der CDU waren einfach andere Karrieren möglich. Ich fand es gut, dass sie keine Blockflöte war. Die haben den DDR-Staat ja mitgetrage­n. Die haben sich nie der Verantwort­ung gestellt. Ein Günther Krause kommt aus dem Nichts, ist plötzlich der Unterhändl­er für den Staatsvert­rag und unlängst Kandidat fürs Dschungelc­amp. Ich habe Wolfgang Schäuble gefragt, was hat die DDR denn gefordert? Nichts – darüber hat er sich selber gewundert.

„Ich bin in Bonn wie Falschgeld rumgelaufe­n.“

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Foto: Imago Images Werner Schulz kann das Hadern vieler Ostdeutsch­er mit dem Leben nach der Wiedervere­inigung nicht nachvollzi­ehen. Der 69-Jährige sagt: „Es ist überwiegen­d gut gelaufen.“

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