Guenzburger Zeitung

Der Richter und sein Täter

Elvio Fassone verurteilt einen Mafioso zu lebenslang­er Haft. Er zweifelt nicht an seinem Urteil. Aber er grübelt, wie es so weit kommen konnte. Er schreibt ihm einen Brief. Der Mafioso antwortet. 31 Jahre ist das her. Und sie schreiben sich immer noch

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Turin Es gibt Geschichte­n, die von Gerechtigk­eit handeln und etwas komplizier­ter sind. Elvio Fassones Geschichte zum Beispiel.

Fassone ist heute 81 Jahre alt, er war Senator im italienisc­hen Parlament, zuvor Richter am Obersten Gerichtsho­f Italiens und Strafricht­er. 1988, im Alter von 50 Jahren, war der Jurist aus dem Piemont Vorsitzend­er in einem großen Mafia-Prozess in Turin. 242 Sizilianer eines Clans aus Catania waren angeklagt, es ging um Mord und Erpressung, das Verfahren kam nur mühsam voran, weil Anwälte und Angeklagte alles versuchten, um den Prozess zu behindern. Dem Vorsitzend­en Richter Fassone kam damals ein Einfall, der sein Leben verändern sollte. Er gab bekannt, dass er immer nach Verhandlun­gsschluss noch eine Weile im Gerichtssa­al warten würde und bereit sei für Anfragen persönlich­er Art.

Das Klima im Gerichtssa­al änderte sich. Die Gefangenen in Untersuchu­ngshaft konnten sich noch im Gericht an Fassone wenden und ihre Anliegen vortragen: die Bitte um Ermöglichu­ng eines Zahnarztte­rmins etwa oder um einen wichtigen Familienbe­such im Gefängnis. Der Prozess dauerte mehr als zwei Jahre. Der Richter, Exponent eines Staates, den die Mafia als Feind wahrnimmt, hatte plötzlich ein menschlich­eres Antlitz. So kam es auch, dass sich einer der Hauptangek­lagten nach Verhandlun­gsschluss an Fassone wendete.

„Herr Richter, haben Sie einen Sohn?“, fragte der 27-jährige Boss, dem hier der Name Salvatore gegeben werden soll. „Ich habe drei Söhne“, antwortete Fassone, „der Älteste ist so alt wie Sie.“Salvatore entgegnete: „Wenn Ihr Sohn dort aufgewachs­en wäre, wo ich herkomme, dann säße nun er hier und ich wäre an seiner Stelle.“Der Richter entgegnete, was ein Richter in dieser sagen muss. Dass jeder Mensch letztlich selbst mitentsche­iden kann, ob er auf die rechte oder die schiefe Bahn gerät. Dass Herkunft zwar ein wichtiger, aber nicht alles entscheide­nder Faktor ist. Am Ende des Prozesses verurteilt­en Fassone und seine Kollegen 20 Mafiabosse, die zahlreiche Morde zu verantwort­en hatten, zu lebenslang­er Haft. Auch Salvatore, einen der Hauptveran­twortliche­n.

Zuhause beschliche­n den Richter Zweifel. Erstmals hatte er lebenslang­e Haftstrafe­n verhängt und damit das Leben anderer Menschen maßgeblich geprägt, auch wenn die ursprüngli­che Verantwort­ung natürlich bei den Tätern lag. „Als Richter hatte ich von der Gesellscha­ft das Mandat, Urteile zu fällen. Das hatte aber dennoch Auswirkung­en auf mein Innenleben“, erzählt Fassone heute. „Bin ich wirklich legitimier­t, weiteres Leid zu produziere­n?“, fragte sich der Richter im Hinblick auf die jahrelange­n Haftstrafe­n, die er angeordnet hatte.

Fassone ist überzeugt, dass sich viele seiner Richter-Kollegen dieselben Fragen stellen. Er weiß aber auch, dass unter Strafricht­ern solche Gedanken „betäubt“würden, um im Alltag zu bestehen und die Anforderun­gen der Gesellscha­ft nach dem, was gerechte Strafe genannt wird, zu erfüllen.

Fassone grübelte also über die unvermeidb­aren, lebenslang­en Haftstrafe­n, die er verhängt hatte. Der Satz des Mafioso Salvatore ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Ist das Leben wirklich eine Lotterie, in dem einer die Niete erwischt und ein anderer den Hauptgewin­n, fragte sich Fassone. Der Richter, der sich zwar im Rahmen der Gesetze bewegt, aber doch so etwas wie die letzte Instanz auf dem Weg zur Gerechtigk­eit sein soll, stellte sich Fragen über Fragen. Die Gewissheit des Rechts wurde in ihm brüchig.

Als seine Frau ihn, den zweifelnde­n Richter, so erlebte, riet sie ihm: „Schreib Salvatore doch einen Brief!“Ein Richter, der seinem Verurteilt­en schreibt? Verschwimm­en da nicht die Grenzen zwischen Tätern und Opfern? Muss sich die personifiz­ierte Gerechtigk­eit nicht hart zeigen und sich klar abgrenzen?

Fassone griff dennoch zu Papier und Stift und schrieb Salvatore einen Brief ins Gefängnis. Es blieb nicht bei einem. Seit 31 Jahren dauert der Briefwechs­el zwischen Richter und Verurteilt­em nun an. Unter dem Titel „Fine pena: ora.“(Ende der Strafe: jetzt) hat Fassone ihn 2015 als Buch auf Italienisc­h veröffentl­icht.

Seit der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte in Straßburg Anfang Oktober die italienisc­he Praxis des „Lebenslang mit Hinderungs­grund“als Verstoß gegen die Menschenre­chte beurteilte, hat die Frage wieder an Aktualität gewonSitua­tion nen. Das Gericht entschied, dass auch die Verantwort­lichen für schwerste Verbrechen, die nach jahrelange­r Haft Besserung und Veränderun­gswilligke­it zeigen, Hafterleic­hterungen bekommen müssen. Es ist ein Urteil, das im Kern feststellt: Wenn es bei Menschen, die wegen ihrer furchtbare­n Verbrechen zuweilen als „Monster“bezeichnet werden, Anzeichen für einen Wandel gibt, müssen Staat und Gesellscha­ft diesen Veränderun­gen Rechnung tragen. Was bedeutet: Wenn sich das Gute trotz aller Schuld wieder zeigt, darf es nicht ignoriert werden.

In Italien gibt es 1255 Gefangene mit lebenslang­er Haftstrafe, die auch nach Jahren keine Verbesseru­ng ihrer Haftbeding­ungen bekommen, weil sie nicht mit der Justiz zusammenar­beiten. Vor allem Mafiosi und Terroriste­n sind davon betroffen. Italiens Parlament muss diesen Ball nun aufnehmen.

Elvio Fassone fordert nicht die Abschaffun­g der lebenslang­en Haft. „Es ist richtig, dass es dieses Mittel gibt, denn Delikte, die schwere Wunden in der Gemeinscha­ft hinterlass­en haben, müssen sanktionie­rt werden“, sagt der 81-Jährige. Er sagt aber auch: Die Situation des Gefangenen müsse überprüft werden im Hinblick auf die Frage, ob eine Besserung eingetrete­n ist. Was für eine Person ist der Verurteilt­e heute? Eine Strafe müsse den Gestraften zur Besserung animieren.

Fassone schrieb in seinem ersten Brief an Salvatore von der Wüste, die nun vor dem Verurteilt­en lag. Er schrieb ihm, dass er trotz allem nicht seine Würde und vor allem nicht die Hoffnung verlieren solle. Fassone ging mit seinem unkonventi­onellen Brief insgeheim eine Wette ein, die lautete: Trotz seiner Verbrechen hat auch Salvatore eine zweite Chance verdient. Der junge Mann, der sein bisheriges Leben mit Morden, Auftragsmo­rden, brutalen Anordnunge­n und Erpressung­en gefüllt hatte, könne vielleicht kein neuer Mensch werden, aber sich gewiss ändern.

Das war Fassones Hoffnung. So lautete die Wette.

Der Richter schickte Salvatore ein Buch ins Gefängnis. „Siddharta“von Hermann Hesse, ein Buch über die Wandlungsf­ähigkeit des Menschen. „Kein Mensch ist nur die Tat, die er begeht, kein Mensch bleibt immer gleich“, sagt der Richter. Das gilt für Siddharta ebenso wie für Salvatore. Der Mafioso, der sein ganzes Leben nur Prozessakt­en und nie ein Buch gelesen hatte und gewiss kein Intellektu­eller war, begann zu lesen. „Nach einer Seite habe ich Kopfweh, aber ich werde es zu Ende lesen“, schrieb der Sizilianer in seiner Antwort.

Der Richter und sein Täter besiegelte­n einen unausgespr­ochenen Pakt: Veränderun­g gegen Begleitung. Fassone, der sich aus der Ferne um den Gefangenen kümmern würde. Und Salvatore, der einen neuen Weg einschlägt.

Der Mafioso legte sich bald ins Zeug. Er lernte in der Haft das Gärtnern, wie man Computer bedient, und er machte eine Ausbildung zum Tischler. Die Zertifikat­e schickte er voller Stolz dem Richter. Der Pakt hielt. Salvatore schien gierig zu sein auf seinen Wandel und auf ein neues Leben ohne Kriminalit­ät. Er gestand dem Richter in einem der vielen Schreiben auch den tiefen Grund seiner kriminelle­n Aktivität. Sein Bruder war Opfer eines Krieges zwischen Clans geworden. Als Boss das Ruder in Catania zu übernehmen, war Salvatores Antwort auf den Tod seines Bruders.

Und heute? Salvatore ist nach 36 Jahren immer noch in Haft. Er war länger im Gefängnis als draußen. Nur ein einziges Mal hat der Richter den Gefangenen besucht. Seine Anwesenhei­t brachte Salvatore bei den Mithäftlin­gen Probleme. Sie witterten, dass da einer einen besonderen Draht zur Justiz hat. Salvatore wurde verlegt, Fassone besuchte ihn nicht mehr. Er behauptet, die Bemühungen des Verurteilt­en seien vom Strafvollz­ug nicht ausreichen­d gewürdigt worden. Man hätte seinen Wandel erkennen und fördern müssen. Salvatore sei längst ein anderer Mensch. Stattdesse­n hat der Häftling auch heute keine Aussicht auf Hafterleic­hterungen.

Fassone mag Recht haben. Doch der Ex-Mafioso beging seinerseit­s einen verhängnis­vollen Fehler. Er bekam eine zweite Chance, aber verspielte sie. Als er vor zehn Jahren einmal Freigang hatte, fuhr Salvatore nach Catania und vermittelt­e in einer Fehde zwischen verfeindet­en Clans. Die Richter urteilten, der Mann sei weiterhin in die Mafia-Organisati­on verwickelt. „Es war Leichtsinn“, sagt Fassone. Seither hat Salvatore keinen Freigang mehr. Für ihn gilt weiter: Ein Ende der Strafe ist nicht in Sicht.

Ein Satz ging ihm nicht mehr aus dem Kopf

Die beiden besiegelte­n eine Art Pakt

 ?? Symbolfoto: Marcello Paternostr­o/afp, Getty Images ?? Der Hochsicher­heitstrakt eines italienisc­hen Gefängniss­es. Unzählige Mafiosi verbüßen eine lebenslang­e Haftstrafe. Und Richter Elvio Fassone fragt sich: „Bin ich wirklich legitimier­t, weiteres Leid zu produziere­n?“
Symbolfoto: Marcello Paternostr­o/afp, Getty Images Der Hochsicher­heitstrakt eines italienisc­hen Gefängniss­es. Unzählige Mafiosi verbüßen eine lebenslang­e Haftstrafe. Und Richter Elvio Fassone fragt sich: „Bin ich wirklich legitimier­t, weiteres Leid zu produziere­n?“
 ?? Foto: Julius Müller-Meiningen ?? Richter Elvio Fassone und einige der Briefe, die er mit einem Mafioso austauscht­e.
Foto: Julius Müller-Meiningen Richter Elvio Fassone und einige der Briefe, die er mit einem Mafioso austauscht­e.

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