Victor Hugo: Der Glöckner von Notre-Dame (103)
Ein Welterfolg – zigfach verfilmt und als Bühnenwerk bearbeitet. Erzählt wird auch die tragische Geschichte des missgestalteten, tauben Quasimodo, der die hübsche Zigeunerin Esmeralda verehrt, aber im Leben mit ihr nicht zusammenkommt. Doch der Hauptprotagonist, das ist die Kathedrale. © Projekt Gutenberg
Erlaubt mir, Meister, daß ich Euch die Geschichte des Palastes Barbeau erzähle. Das endet sehr tragisch, und zwar im Jahre 1319 unter der Regierung Philipps V., der unter allen Königen von Frankreich am längsten regiert hat. Die Moral der Geschichte ist, daß die Versuchungen des Fleisches so gottlos als verderblich sind. Laß Dich nicht gelüsten nach Deines Nächsten Weib, so lockend ihre Reize auch seien. Unzüchtige Gedanken erzeugen Fleischeslust, Ehebruch ist… Hört doch! Da unten geht das Geschrei aufs Neue wieder an!“
In der That war der Lärm um die Liebfrauenkirche gestiegen, die Schiffenden horchten. Man hörte deutlich Siegesgeschrei. Bald erblickte man hundert Fackeln, welche sich in der Kirche, auf den Thürmen und Galerien hin und her bewegten, als ob sie etwas suchten. Jetzt auf einmal drang der Ruf: „Die Zigeunerin! die Hexe! Wo ist sie?“deutlich in die Ohren der Flüchtigen. Das unglückliche Geschöpf bedeckte angstvoll ihr Gesicht mit beiden Händen, und der Unbekannte ruderte aus allen Kräften dem Ufer zu. Inzwischen dachte unser Philosoph über die Lage der Dinge nach. Er nahm die Ziege in seine Arme und entfernte sich sachte von Esmeralda, welche sich dicht an ihn gedrängt hatte, als an den einzigen Zufluchtsort, der ihr übrig geblieben war. Unser armer Peter Gringoire befand sich in keiner geringen Verlegenheit. Er bedachte, daß man, laut bestehenden Gesetzen, auch die Ziege hängen würde, wenn man sie wieder ergriffe, und es wäre doch Jammerschade um die niedliche Djali! Welche der beiden Verurtheilten sollte er nun retten? Beide zugleich, das schien ihm zuviel für seine Kräfte. Nach einem harten Kampfe entschloß er sich, die Ziege zu retten, und Esmeralda’s Rettung dem Schwarzen zu überlassen.
Der Nachen stieß ans Land. Von der Altstadt herüber tönte immer noch das furchtbare unheilverkündende Geschrei. Der Unbekannte wollte die Aegypterin aus dem Nachen heben, sie stieß ihn zurück und hängte sich an Peter Gringoire’s Aermel. Dieser entzog ihr seinen Arm, um die Ziege fester zu halten. Nun sprang sie allein ans Land. Sie war so verwirrt, daß sie nicht wußte, was sie that, noch wohin sie ging. So blieb sie einen Augenblick besinnungslos am Ufer stehen und blickte starr in die Wellen des Stroms. Als sie wieder zu sich kam, fand sie sich allein mit dem Unbekannten. Peter Gringoire war mit ihrer Ziege davon gelaufen. Das arme Mädchen schauderte, sie wollte reden, schreien, Peter Gringoire rufen, aber ihre Zunge versagte ihr den Dienst und sie konnte keinen Laut über ihre Lippen bringen. Plötzlich fühlte sie die Hand des Unbekannten die ihrige berühren. Diese Hand war kalt wie Eis. Ihre Zähne klapperten, und sie wurde blasser als der Strahl des Mondes, der sie beleuchtete.
Der Unbekannte sprach kein Wort. Er hielt sie an der Hand und ging mit eilenden Schritten dem Grèveplatz zu. In diesem Augenblicke hatte sie ein unbestimmtes Gefühl, daß der Mensch seinem Schicksal nicht entrinnen kann. Sie mußte dem Manne folgen, der ihr Schrecken des Todes einflößte, sie hatte keine andere Wahl.
Sie blickte nach allen Seiten um sich. Kein lebendes Wesen war zu sehen. Sie hörte nur von ferne das Geschrei in der Altstadt, von der sie nur durch einen Arm des Flusses getrennt war, und von der ihr dem Tode geweihter Name herüber tönte. Der Unbekannte schleppte sie immer mit gleicher Schnelligkeit und gleich tiefem Schweigen nach sich. Sie erkannte keine der Straßen, durch welche sie ging. Als sie vor einem beleuchteten Fenster vorüberkam, nahm sie alle ihre Kraft zusammen und rief: „Hülfe! Helft!“
Ein Bürgersmann im bloßen Hemde und die Lampe in der Hand, öffnete das Fenster, blickte aus die Straße, murmelte einige unverständliche Worte, und schloß es wieder. So war der letzte Funken der Hoffnung erloschen.
Der Schwarze blieb stumm wie das Grab, er hielt sie fest an der Hand und eilte mit starken Schritten vorwärts. Sie leistete keinen Widerstand mehr, sie folgte ihm, sie war willenlos. Von Zeit zu Zeit sammelte sie so viel Kraft, um ihn mit halb erstickter Stimme zu fragen: „Wer bist Du? Wer bist Du?“Er antwortete nicht.
So kamen sie auf einen ziemlich großen Platz. Sie erkannte bei dem schwachen Licht des Mondes den Grèveplatz. Mitten auf demselben war der Galgen aufgerichtet.
Der Schwarze stand still, wendete sich gegen sie und schlug seine Kaputze zurück. Sie war versteinert und rief mit stammelnder Zunge: „Oh! Ich wußte wohl, daß er es ist!“
Es war der Priester. Wie ein Gespenst stand er im bleichen Mondenschein vor ihr.
„Höre,“sagte er, und sie zitterte beim Ton dieser unheilvollen Stimme, welche sie seit langer Zeit nicht gehört hatte. „Höre,“fuhr er fort. „Hier stehen wir jetzt. Höre mich! Das ist der Grèveplatz. Du stehst am Rand des Grabes. Das Schicksal waltet über uns beiden. In meiner Hand liegt Dein Leben, in der Deinigen meine ewige Seligkeit. Höre mich also! Nach dieser Nacht wird es nimmer Tag, und der Fleck Erde, auf dem Du stehst, ist der letzte, den Dein Fuß betritt. Höre mich, und ich verbiete Dir, ein Wort von Deinem Phöbus zu sagen. Ich will diesen Namen nicht mehr hören. Wenn Du ihn aussprichst, so wird er Dir Tod und Verderben bringen. Ich bin furchtbar in meinem Zorn.
„Wende Dein Gesicht nicht von mir weg,“fuhr er mit dumpfer Stimme fort.
„Höre mich, denn es handelt sich um Leben und Tod. Hier ist nicht zu spassen. Was wollte ich doch sagen? Weißt Du es nicht? Richtig, es fällt mir ein. Ein Parlamentsbeschluß überliefert Dich wieder der Hand des Henkers. Ich habe Dich den Händen Deiner Verfolger entrissen, aber sie sind auf Deinen Fersen. Blick auf!“
Der Priester streckte seinen Arm gegen die Altstadt aus. Das Geräusch von dort näherte sich: der Thurm in dem Hause des Lieutenants, der dem Grèveplatz gegenüber wohnte, füllte sich mit Lichtern; man sah am entgegengesetzten Ufer Soldaten mit Fackeln herumlaufen und hörte sie rufen: „Die Zigeunerin! Wo ist die Zigeunerin? Sie muß sterben!“
Der Priester fuhr fort: „Du siehst selbst, daß sie Dich verfolgen, ich lüge nicht. Sie wollen Deinen Tod, ich aber liebe Dich. Oeffne den Mund nicht; sage mir nicht, daß Du mich hassest; ich will es nicht hören. Ich habe Dich gerettet. Ich kann Dich ganz retten. Alles ist vorbereitet. Du darfst nur wollen. Sprich, und es ist geschehen.“Er unterbrach sich heftig: „Nein, das wollte ich nicht sagen.“
Mit diesen Worten riß er sie zum Galgen, deutete mit dem Finger darauf und sagte kalt: „Wähle zwischen uns beiden!“
Sie entschlüpfte seinen Händen, sank vor dem Galgen nieder und umfaßte ihn mit beiden Armen, drehte dann ihr schönes Haupt um und sah den Priester über die Achsel an. »104. Fortsetzung folgt