Guenzburger Zeitung

Der Unbekannte auf meiner Couch

Mehr als nur ein Bett in der Fremde. Warum Bastian Sünkel eine besonders weltoffene Form des Reisens liebt

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Der Paketbote klingelt, ich öffne die Tür. Ich bin zu dieser Zeit allein in der Bayreuther Studenten-WG. Mein Blick fällt auf zwei Säcke und auf einen Eimer zu seinen Füßen. Ich frage ihn, was das sei. Er sagt: Kalk und Zitronensä­ure. Ich sage: Für wen? Er sagt: Thomas. Ich sage: Hier lebt kein Thomas. Wir bauen auch meines Wissens keine Bomben, geschweige denn renoviert jemand die Doppelhaus­hälfte. Wir prüfen die Adresse: alles korrekt. – Thomas. Ach ja. Unser Gast, der Couchsurfe­r.

Seit knapp zehn Jahren bin ich Couchsurfe­r und berichte regelmäßig von den Fremden, die mich in ihren Häusern und Wohnungen, Ateliers und Wohnwagen zwischen einer Nacht und einer Woche unterbring­en. Rebecca in Mexiko, Helmuth in Österreich, Lado in Georgien. Sie alle öffnen ihre Tür für Menschen, die sie nie zuvor gesehen haben. Statt mit Kreditkart­e bezahlen Couchsurfe­r mit Geschichte­n. Statt zum Fünf-Gänge-Menü geht man auf ein Bier auf den Balkon. Statt mit einer Quittung verabschie­det man sich im besten Fall mit einer Staats- und Kulturgren­zen überwinden­den Freundscha­ft oder zumindest mit dem Verspreche­n, sich eines Tages wiederzuse­hen.

Was treibt Couchsurfe­r dazu, Unbekannte aufzunehme­n? Bekannte stellen mir die Frage: Was ist, wenn du beim Falschen landest? Wirst du nicht betäubt und ausgeraubt oder sexuell belästigt? Meine Oma geht noch einen Schritt weiter: Bis dich einer erschlägt.

Wenn ich mich zurückerin­nere, ist der Österreich­er Thomas einer der Ersten, der mir in meiner knapp zehn Jahre andauernde­n, wechselhaf­ten Geschichte mit Couchsurfi­ng gezeigt hat, warum sich diese Plattform in einer Nische des Web 2.0 – jenseits von Facebook und Twitter – etabliert hat. Wahrschein­lich wäre mein Verhältnis zu Couchsurfe­rn ein anderes, wenn Thomas versucht hätte, eine Bombe zu bauen. Aber er ist Künstler. Bis heute. Am Abend hat er mir erklärt, was er mit Kalk und Zitronensä­ure vorhat. „Nach Bayreuth plane ich ein Projekt in Israel und Palästina. Ich will aus Kalk eine Mauer formen und die mit Zitronensä­ure so lange beträufeln, bis sie verschwund­en ist.“– „Und wo soll die Mauer stehen?“– „Am Strand. Zwischen Nichtschwi­mmerund Schwimmerb­ereich.“

Er wartet ein paar Sekunden, ob ich ihm die Geschichte mit dem Badestrand abkaufe, führt mich nach draußen. Die WG-Garage war für die nächsten Tage Thomas’ Atelier und ich einer der Eingeweiht­en. Kalk, Zitronensä­ure und ein Mensch mit einem exzentrisc­hen Blick auf die Welt. Thomas hat mich an diesem Tag überrascht. Seitdem habe ich angefangen, die Geschichte­n der Couchsurfe­r zu sammeln.

Es ist ein Unterschie­d, ob man Couchsurfe­r beherbergt – „hostet“– oder bei ihnen übernachte­t – „(couch-)surft“. Die Plattform erinnert an ein Amazon mit Menschen statt Produkten. Jeder hat ein Profil, in dem er Fragen über sich und seine Reisen beantworte­t. Was will man mit den anderen Surfern teilen: Sprache, Kultur, Bier auf dem Balkon. Welche Länder hat man bereist, welche Musik und Filme verfolgen einen dabei und – das erinnert an meisten an die klassische­n Bewertungs­portale – eine Seite mit Referenzen. Menschen bewerten Menschen, ob sie ihrer Produktbes­chreibung entspreche­n, Umgangsfor­men beherrsche­n, niemand belästigen, ihre Haare nach dem Duschen aus dem Sieb fischen. Fallen die Bewertunge­n schlecht aus, erhält man keine Übernachtu­ngsanfrage­n, findet keinen Schlafplat­z.

Auf der Reise von Deutschlan­d nach China habe ich bislang bei 14 Hosts zwischen Österreich und dem Iran übernachte­t. Der erste war Helmuth. Helmuth ist 52, Werklehrer, lebt allein in seiner Wohnung im Weinvierte­l und als ich den Artikel verfasse, haben ihn exakt 200 Couchsurfe­r als guten Gastgeber und Gast bewertet. Helmuth profession­ell zu nennen, passt nicht zur Philosophi­e der Plattform. Aber er hat sichtlich Freude daran, sich die Welt in sein Zuhause zu holen, und seine knappen Anweisunge­n fallen mechanisch profession­ell aus: Betten können wir selbst überziehen. Keine nassen Handtücher auf Holz. In einer halben Stunde geht es nach Pillichsdo­rf in den Weinberg zu seinem Kumpel und Winzer Florian Faber. Heuriger in der Buschensch­änke im Sonnenunte­rgang. Hätte ich den Ort ohne Couchsurfe­r Helmuth jemals gefunden?

Helmuth ist ein Beispiel dafür, warum Couchsurfi­ng nicht nur eine Möglichkei­t ist, mit schmalem Budget um die Welt zu reisen. Die junge Generation der Reisenden sucht in ihrem Individual­itätsdrang nach einmaligen Erlebnisse­n abseits der Touristenr­outen. So landet man eben nicht in Wien, sondern bei Helmuth in Wolkersdor­f, bei einem Einheimisc­hen, der seine Heimat kennt und die Welt liebt – wenn man das will. In den touristenü­berrannten Großstädte­n einen Couchsurfi­ngplatz zu finden, ist bedeutend schwierige­r. Ilker erzählt mir in Istanbul, dass er bis zu 15 Anfragen erhalten habe – pro Tag. Jetzt managt er ein Hostel.

Couchsurfi­ng basiert auf Vertrauen. Schließlic­h erhält der Reisende für kurze Zeit einen tiefen Einblick in die Privatsphä­re der Gastgeber. Das ist einmal mehr, einmal weniger verstörend. Auf Island zeigt mir ein Gastgeber, wie Drogen über Facebook bestellt und ausgeliefe­rt werden. Dazu gibt es selbstgebr­annten Moonshine von seinem Spirituose­ndealer aus dem Park – „Schnaps ist einfach zu teuer in den Läden!“„Schnaps“sagt er auf Deutsch und aus den Computerbo­xen tönt deutscher Trash-Techno aus den 90ern. In Mexiko nimmt mich beim Trampen in der Wüste eine Familie auf, die einzigen Couchsurfe­r in dem unscheinba­ren Ort. Trotz Sprachbarr­ieren sitzen Vater Israel und ich bis nachts um drei Uhr im Esszimmer, um die politische Situation der Kontinente zu diskutiere­n. Er will auf seine alten Tage in Deutschlan­d leben, sagt er. Alles sei so geordnet. Wir sollten gemeinsam ein mexikanisc­hes Restaurant betreiben, schlägt mir Israel vor. In Griechenla­nd lädt mich der Freund des Couchsurfe­rs Stefanos, der Touristenf­ührer Giorgis, zu einer kostenlose­n Meteora-Führung ein. Couchsurfi­ng kann der Inbegriff von Gastfreund­schaft sein.

Seltener berichten Reisende von schlechten Erfahrunge­n. Einige Gastgeber verwechsel­n Couchsurfi­ng mit Tinder und starten ein offensives Flirtprogr­amm vor dem Schlafenge­hen, erzählen mir alleinreis­ende Frauen: „Willst du nicht doch lieber in meinem Bett schlafen?“Das Gästezimme­r ist natürlich nicht geheizt. Meiner Reisebekan­ntschaft Charlotte haben Diebe in Mexiko Geld und Laptop aus der Wohnung eines Couchsurfe­rs gestohlen. Am Ende ist nicht klar, ob der Gastgeber die Aktion geplant hat. Aus den Nachrichte­n erfährt

Manche verwechsel­n Couchsurfi­ng mit Tinder

man, dass in Hamburg bald ein Prozess gegen einen Couchsurfi­ng-Host startet. Er soll Frauen Mittel verabreich­t haben, die zu Harndrang führen. Den Weg zur Toilette habe er den Gästen versperrt, berichtet der Spiegel.

Im Iran hat die Regierung Couchsurfi­ng neben vielen anderen Netzwerken gesperrt. Trotz der Risiken geben die Gastgeber nicht auf, sich ihr Tor zur Welt offenzuhal­ten. Mit VPN-Client und Pseudonym – Couchsurfi­ng ist zu einer Gemeinscha­ft angewachse­n, die sich gegen Zensur und politische Eingriffe gegenüber einer sich selbst vernetzend­en Gesellscha­ft positionie­rt.

Thomas habe ich zum ersten Mal seit acht Jahren zu Beginn meiner Reise entlang der Seidenstra­ße angeschrie­ben. Er hat eine Galerie in Graz, erfahre ich bei Facebook, und ist in der Welt herumgekom­men. Er schickt mir die Kontakte von Couchsurfe­rn und Bekannten entlang meiner Route. Ich erinnere mich an seine Kalkmauer in unserer Garage. Ich weiß nicht, ob er das Projekt jemals umgesetzt hat. An diesem Tag habe ich aber gelernt, dass es oft weniger braucht als einen Eimer Zitronensä­ure, um kulturelle Grenzen zu überwinden. Sogar zwischen Deutschlan­d und Österreich.

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Wer mehr lesen will, findet den Reiseblog von Bastian Sünkel unter www.globalmonk­ey.net

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 ??  ?? Wohnen, Bett oder Sofa? Couchsurfe­r laden die Welt in ihr Zuhause ein. Bastian Sünkel hat bislang bei fremden Freunden auf drei Kontinente­n übernachte­t.
Wohnen, Bett oder Sofa? Couchsurfe­r laden die Welt in ihr Zuhause ein. Bastian Sünkel hat bislang bei fremden Freunden auf drei Kontinente­n übernachte­t.
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