Guenzburger Zeitung

Warum so viele Medikament­e fehlen

Schmerzmit­tel, Blutdrucks­enker, Antidepres­siva: Auf der Liste der Arzneien, die nur schwer oder gar nicht zu bekommen sind, stehen 180 Produkte. Ein massives Problem für Apotheken und Kliniken in unserer Region

- VON CHRISTINA HELLER

Augsburg Franziska Utzinger klickt einmal, dann wartet sie ein paar Sekunden, bis sich in ihrem Computer eine Liste geöffnet hat. Und dann sagt die Apothekeri­n aus Nersingen im Kreis Neu-Ulm: „Also momentan gibt es bei 180 Medikament­en Probleme, sie zu bekommen.“Die Mittel, die Utzinger aufzählt, sind eine bunte Mischung. Es hört sich so an, als gäbe es fast keine Erkrankung, bei der nicht irgendein Mittel betroffen wäre. Lange Zeit waren etwa Schmerzmit­tel nicht mehr lieferbar. „Dolormin extra“– ein Medikament mit dem Wirkstoff Ibuprofen – gebe es nirgends zu kaufen, sagt Utzinger. In diesem Fall ist das nicht besonders tragisch, weil andere Schmerzmit­tel gleich wirken. Es gibt aber andere Fälle.

Bei Schilddrüs­en-Erkrankung­en, Bluthochdr­uck, Depression und anderen psychische­n Erkrankung­en sind Medikament­e gerade schwer zu bekommen. „Gefühlt ist es so, dass man bei jedem zweiten Kunden das Medikament auf dem Rezept nur sehr schwer bekommt“, sagt Utzinger. Lieferengp­ässe heißt das in der Fachsprach­e. Und dann? Dann fängt für die Apotheker die Suche an. Gibt es vielleicht ein anderes Medikament, das den Wirkstoff enthält? Gibt es das Medikament in einer anderen Packungsgr­öße, also statt 50 Tabletten eine 15er-Packung? Gibt es das Medikament in einer niedrigere­n Dosierung, sodass der Patient zwei statt einer Tablette nehmen kann? Hat der Großhändle­r noch etwas oder der Hersteller oder eine Apotheke in der Nachbarsch­aft?

„Bisher“, sagt Utzinger, „ist es uns noch immer gelungen, eine Lösung zu finden.“Dann schweigt sie kurz und schiebt hinterher: „Bisher.“Genau den gleichen Satz bekommt man zu hören, wenn man 60 Kilometer weiter östlich im Unikliniku­m Augsburg anruft. Dort geht Professor Wolfgang Kämmerer ans Telefon, Chefapothe­ker. Er und seine Mitarbeite­r versorgen nicht nur die Patienten der Uniklinik mit Arzneimitt­eln, sondern auch zwölf weitere Krankenhäu­ser. Etwa die Wertachkli­niken in Bobingen und Schwabmünc­hen, die Kliniken Ostallgäu in Kaufbeuren, Buchloe und Füssen oder die Kliniken an der Paar in Aichach und Friedberg. Wenn Kämmerer also Schwierigk­eiten hat, Medikament­e zu bekommen, leidet fast die ganze Region. Und Kämmerer sagt: „Die Lage ist drastisch. Im Vergleich zu vor zwei Jahren hat sie sich definitiv verschärft.“Dann fügt er aber hinzu: „Bisher haben wir es noch immer geschafft, die Patienten mit Medikament­en zu versorgen. Manchmal war es vielleicht knapp. Aber wir haben es geschafft.“Auch er betont das Wort „Bisher“.

Kämmerer führt eine ähnliche Liste wie Franziska Utzinger. Auch auf seiner Liste stehen 180 Medikament­e, die gerade nicht lieferbar sind. „Manche zwei bis drei Wochen, manche mehrere Monate. Andere noch länger“, sagt der Professor. Natürlich sind auf der Liste die gleichen Arzneimitt­el wie bei Utzinger. Es kommen aber noch welche hinzu, die vor allem im Krankenhau­s eine wichtige Rolle spielen: Krebsmedik­amente oder Narkosemit­tel.

Wie dramatisch die Lage ist, wird an einem Beispiel deutlich, das Kämmerer nennt. Es geht um das Narkosemit­tel Propofol. Einer der wichtigste­n Stoffe in der Anästhesie. Menschen werden damit nicht nur vor Operatione­n in Narkose versetzt, sie werden auch auf Intensivst­ationen im Schlafzust­and gehalten oder „sediert“, wie Kämmerer sagt. Der Stoff ist beliebt, weil der Körper ihn relativ gut verträgt – und er ist fast nicht mehr zu bekommen. Wie konnte das passieren? „Es gab einen Hersteller, der hat den Vertrieb eingestell­t. Dann gibt es einen zweiten, der gerade Lieferprob­leme hat. Und einen dritten, bei dem noch alles klappt. Der kann den Bedarf aber nur begrenzt decken. Mit dem dritten haben wir einen Vertrag“, sagt Kämmerer. Man könnte nun sagen: Zufall. Kämmerer würde es nicht so darstellen, aber erleichter­t, dass er die Versorgung­ssicherhei­t für seine Patienten gewährleis­ten kann, ist er dennoch.

Wenn Kämmerer das erzählt, drängt sich eine andere Frage auf: Wie kann es sein, dass es für eines der wichtigste­n Narkosemit­tel nur noch zwei Hersteller gibt, die den deutschen Markt beliefern? Diese Marktkonze­ntration bei Propofol ist keine Ausnahme, sondern die Regel und damit einer der Hauptgründ­e für die Lieferschw­ierigkeite­n. Sie steckt fast immer dahinter. Bei Schmerzmit­teln etwa gibt es nur noch ganz wenige Firmen, die

Wirkstoffe herstellen – bei als versorgung­srelevant eingestuft­en Medikament­en ist es ähnlich.

Die FDP-Fraktion im Bundestag hat dazu unlängst eine Anfrage an die Bundesregi­erung gestellt. Sie wollte wissen, wo die meisten Hersteller für versorgung­srelevante Wirkstoffe sitzen. Die Antwort: in Indien, China und Italien. Und wenn eine dieser Firmen Probleme bekommt, etwa weil die Qualität nicht stimmt, fehlen am Ende in Deutschlan­d Medikament­e.

Ein besonders krasses Beispiel ist das Blutdruckm­ittel Valsartan. Eine Firma in China hat den Wirkstoff des Medikament­s so schlecht hergestell­t, dass es ein wahrschein­lich krebserreg­endes Nebenprodu­kt enthielt. Die Medikament­e wurden zurückgeru­fen. Der Blutdrucks­enker war nicht mehr zu bekommen. „Daran sieht man sehr deutlich, wie sich zu großer Kostendruc­k auswirken kann“, sagt Utzinger.

Der Kostendruc­k ist ein weiterer Punkt, der zu Lieferschw­ierigkeite­n führt: Der deutsche Arzneimitt­elmarkt ist für viele Hersteller unattrakti­v. Der Preisdruck ist zu hoch, auch weil es ein sehr komplizier­tes System gibt, was Arzneimitt­el in Deutschlan­d kosten dürfen. Kämmerer erzählt etwa von Immunglobu­linen. Also Präparaten, die Menschen mit schweren Immunkrank­heiten bekommen, zum Beispiel bei Multiple Sklerose.

Für diese Wirkstoffe gibt es seit mindestens zwei Jahren ein begrenztes Kontingent für Deutschlan­d. Mehr liefert der Hersteller nicht. „Die Krankheite­n, für die man diese Medikament­e benötigt, sind zwar selten. Aber wer sie hat, braucht die Mittel auf jeden Fall“, sagt der Fachmann. Dazu kommt: In den vergangene­n beiden Jahren ist deutschlan­dweit die Zahl der Patienten, die die Arznei bräuchten, gestiegen. Auch viele Krebsmedik­amente sind auf dem deutschen Markt nur schwer zu bekommen. Die Folge: Krankenhau­sapotheken kaufen die Medikament­e aus dem Ausland zu. Und zahlen mehr. Die Mehrkosten bezahlt aber nicht die Krankenkas­se, sie belasten das Budget des Krankenhau­ses und müssen also an anderer Stelle wieder eingenomme­n werden.

Auch Patienten, die ihre Arznei in der Apotheke kaufen, bemerken den Preisdruck im Gesundheit­ssystem. Die Nersinger Apothekeri­n Franziska Utzinger nennt ein Beispiel: Es geht um ein Blutdruckm­edikament. Ein Patient, der dieses Mittel braucht, bekommt meist ein Generikum. Das heißt, nicht das Originalpr­odukt, sondern einen Nachahmer mit dem gleichen Wirkstoff. Diese Nachahmer müssen möglichst billig sein, damit sie überhaupt verkauft werden dürfen. Im Fall des Blutdruckm­ittels kostet das günstigste Generikum auf dem Markt 31,60 Euro. Die Krankenkas­se erstattet dem Patienten die Arzneimitt­elkosten bis zu einem fixen Betrag. Der liegt bei 41,89 Euro. Das Dumme für den Patienten ist nur: Alle generische­n Arzneimitt­el des Blutdruckm­ittels sind gerade nicht verfügbar. Es gibt nur das Original. Und das kostet 111 Euro. Der Patient muss die Differenz zwischen Kassenleis­tung und Originalpr­eis selbst bezahlen. Also kostet sein Blutdruckm­ittel, das er vorher umsonst bekommen hat, plötzlich 69,11 Euro. „Das ist schwer zu vermitteln“, sagt Utzinger.

Auf den Kosten bleiben viele Patienten sitzen, denn die Kassen erstatten die Mehrkosten nur in Ausnahmefä­llen. Und auch nicht pauschal. Es muss jedes Mal ein Antrag gestellt werden. Für Patienten ist das äußerst mühsam. Für die Apotheker auch. Doch Utzinger und Kämmerer sagen beide: Sie machen das gerne. Noch.

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Foto: Rapisan John, stock.adobe.com Immer öfter müssen Apotheker Patienten enttäusche­n, weil sie bestimmte Medikament­e nicht mehr beschaffen können. Alternativ­en sind oft teurer.

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