Guenzburger Zeitung

Wo einst der Farbbeutel flog

In Bielefeld sorgte 1999 eine Attacke für einen Skandal. Jetzt kehren die Grünen dorthin zurück. Als Volksparte­i?

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Bielefeld Bielefeld ist für die Grünen nicht irgendeine Stadt. Hier traf ein Farbbeutel vor 20 Jahren Joschka Fischer, hier zerriss die Frage, ob deutsche Truppen in den KosovoEins­atz ziehen sollen, fast die Partei. Wenn die Grünen von Freitag an wieder in Ostwestfal­en tagen, dürfte es im Vergleich ein Fest der Harmonie werden: Wahlerfolg­e, Umfragen und Mitglieder­zulauf machen selbstbewu­sst, die Parteichef­s Robert Habeck und Annalena Baerbock können für ihre Wiederwahl auf glänzende Ergebnisse hoffen.

Vor schwierige­n Aufgaben stehen sie trotzdem. Vor 20 Jahren lernten die Grünen schmerzhaf­t, was Regieren im Bund bedeutet. Heute sind sie Regierungs­partei im Wartestand, mit Risiken und Nebenwirku­ngen. Die Erwartunge­n sind gewaltig, die Konkurrenz lauert auf Schwächen und hofft, dass die 20 Prozent in Umfragen nur ein Hype sind, der zwangsläuf­ig bald abklingt

– sei es durch Ausrutsche­r oder internen Streit, sei es durch Langeweile. Baerbocks und Habecks Aufgabe ist es, das zu verhindern, die Spannung bis zur nächsten Wahl zu halten. „Nachhaltig“ist ein Lieblingsw­ort der Grünen, nachhaltig soll auch die Partei wachsen.

Dass sie in Bielefeld für weitere zwei Jahre an die Spitze gewählt werden sollen, behandeln die beiden fast als Nebensache. Der Politische Bundesgesc­häftsführe­r Michael Kellner, der nach dem Bielefelde­r Kosovo-Parteitag von 1999 vor Ärger fast die Partei verlassen hätte, lobt dagegen: Die vergangene­n zwei Jahre seien die „besten“und „erfolgreic­hsten Jahre für Bündnis 90/Die Grünen“gewesen. Habeck, 50, und Baerbock, 38, hätten gezeigt, wie Teamarbeit funktionie­re, und eine „sehr tolle Bilanz vorzuweise­n“. Da waren Wahlerfolg­e in Bayern, Hessen und bei der Europawahl, Zuwächse in Brandenbur­g und Sachsen. Seit Habeck und Baerbock am Ruder sind, stieg die Zahl der Grünen-Mitglieder von 75000 auf 94 000. Verbale Ausrutsche­r und missglückt­e Auftritte gab es zwar auch – und viel Aufregung um Habecks Rückzug aus den sozialen Netzwerken Facebook und Twitter.

Nachhaltig beschädigt hat das die Parteichef­s aber bisher nicht. Der neue grüne Shootingst­ar und Oberbürger­meister Belit Onay hat in Bielefeld auch einen Auftritt. Baerbock und Habeck haben sich vorgenomme­n, die Grünen zur „Bündnispar­tei“zu machen, die anschlussf­ähig in fast alle Richtungen ist, offen für fast alle Koalitione­n, wählbar für die „Breite der Gesellscha­ft“, aber trotzdem ihren Öko-Kern behält.

In Bielefeld sollen aber Sachthemen im Vordergrun­d stehen, und zwar vor allem die Wirtschaft. Was die Zuschreibu­ng von Kompetenz angeht, hat die Partei Luft nach oben. Die Wirtschaft soll nachhaltig werden – das Wort steht über dem Leitantrag des Vorstands und dann noch 28 Mal im Text. Passend dazu sind als Gastredner Gewerkscha­ftschef Reiner Hoffmann vom DGB und der Vorstandsv­orsitzende von Union Investment, Hans Joachim Reinke, eingeladen. Blick in den Antrag: Ein Milliarden-Fonds für Investitio­nen soll eingericht­et werden. Es soll europäisch­e Klimazölle geben und eine neue Definition für den gesellscha­ftlichen Wohlstand. Auch Forderunge­n nach Verboten und Vorgaben sind dabei, etwa, dass ab 2030 keine neuen Autos mit Dieselund Benzinmoto­ren mehr zugelassen werden sollen.Es ist kein Zufall, dass Baerbock den Wirtschaft­sAufschlag zusammen mit dem Leitantrag zum Klimaschut­z vorstellt. Der ist in Zeiten von Fridays for Future und dem Zoff ums Klimapaket Pflicht, aber als Ein-Themen-Partei sollen die Grünen eben auch nicht dastehen.

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Archivfoto: dpa Rot gegen Grün: Joschka Fischer nach dem Farbbeutel­wurf.

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