Gibt es die des Willens?
Titel-Thema Verantwortung, Schuld, Risiko: Ein Befürworter aus der Philosophie und ein Gegner aus der Neurobiologie erklären ihre Positionen
Thomas Buchheim ist als Philosophieprofessor davon überzeugt, dass der Mensch einen freien Willen besitzt. Wer sich philosophisch mit dem Thema Willensfreiheit auseinandersetzt, muss sich laut Buchheim zuerst mit dem Begriff der Zurechenbarkeit oder der moralischen Verantwortlichkeit beschäftigen. „Es bedeutet, dass man für das, was man tut, moralisch verantwortlich ist und für seine Taten im guten wie im schlechten Sinne die Konsequenzen tragen muss.“
Diese Theorie reicht zurück bis in die Antike. Im Laufe der Geschichte setzten sich viele Philosophen mit der Willensfreiheit auseinander, darunter Aristoteles, Augustinus und Immanuel Kant. „Kant ist bis heute das große Vorbild, dessen Einfluss bis in die Gegenwart ausstrahlt“, erklärt Buchheim, „er hat den Ausdruck der Zurechenbarkeit geprägt.“
Immanuel Kant verlangt für eben diese Zurechenbarkeit, dass der Mensch die Möglichkeit besitzt, sich von sich aus zu dem, was man „soll“und was Kant das „Sittengesetz“nennt, zu bekennen oder sich dagegen zu wenden. Um moralisch verantwortlich gemacht zu werden, setzt Kant den freien Willen voraus. „Beim Thema Freiheit treffen wir in der Philosophie zwei Unterscheidungen“, erklärt der Buchheim, „und zwar Handlungs- und die Willensfreiheit.“
Handlungsfreiheit ist laut Buchheim die Grundlage für das, was wir Liberalität nennen, also liberale Verhältnisse in Ethik, im Staat und in der Politik. „Handlungsfreiheit definieren wir gewöhnlich als tun können, was man will.“Jeder Mensch ist mehr oder weniger handlungsfrei. Jemand, der gesund und vermögend ist, ist handlungsfreier als jemand, der krank ist oder im Gefängnis sitzt. „Trotzdem kann in einem liberalen System jeder Mensch unter gewissen Umständen das tun, was er will.“
In der Philosophie lautet die Definition von Willensfreiheit deshalb „wollen können, was man soll“. Denn die Aussage „wollen können, was man will“läuft auf eine unsinnige Doppelung
des Wollen-wollens hinaus. „Das Soll, das wir wollen können, ist nicht immer dasselbe, sondern drückt die geltenden Normen in einem Kontext aus, in dem ein Mensch etwas tun will.“Denn niemand handelt für sich allein, es gibt immer soziale Zusammenhänge und Gegebenheiten, an die man gebunden ist und die einen Menschen beeinflussen. Es gibt Regeln, die man befolgen, aber genauso auch brechen kann. „Wichtig ist für diese Definition, dass diese Regeln etwas sind, das man wollen können muss“, sagt Thomas Buchheim. Man müsse sowohl beim Handeln als auch beim Wollen die körperliche Gesundheit berücksichtigen. „Wenn man zum Beispiel durch eine psychische Krankheit verhindert ist, etwas zu wollen, kann man nicht für sein Handeln verantwortlich gemacht werden.“So steht es zum Beispiel in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1952. Darin heißt es, dass ein Täter nur dann eine vorwerfbare Schuld hat, wenn er sich nicht rechtmäßig verhalten hat, obwohl er sich für das Recht hätte entscheiden können.
„In diesem Zusammenhang ist mir eines wichtig“, sagt Buchheim: „Man muss sich bewusst machen, dass Freiheit für den Menschen auch immer Risiko bedeutet. Freiheit ist keine einfache oder bequeme Angelegenheit.“Für jede Handlung könne es jederzeit unliebsame Folgen geben, für die man – wenn man von einem eigenen freien Willen überzeugt ist – auch jederzeit die Verantwortung übernehmen müsse. „Aber ich habe das Gefühl, dass immer mehr Menschen aus Angst vor den Konsequenzen der Willensfreiheit zurückschrecken.“
»Thomas Buchheim
ist Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sein Schwerpunkt liegt in der Forschung zur systematischen Metaphysik der Gegenwart und zur Antiken Philosophie. In seinem Buch „Verlangen nach Freiheit“beschäftigt er sich mit dem Zusammenhang, wie sehr das Verlangen nach Freiheit etwas damit zu tun hat, wie frei oder unfrei man sich selbst fühlt.
Als Neurobiologe ist Wolf Singer überzeugt, dass es keine Willensfreiheit gibt. Er geht davon aus, dass alle geistigen Vorgänge – zum Beispiel Wahrnehmen oder Entscheiden – Funktionen im Gehirn sind, die auf neuronalen Prozessen beruhen. Das sind im Grunde Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Nervenzellen, also den Neuronen, von denen jeder Mensch etwa 100 Milliarden im Gehirn hat. „Diese Wechselwirkungen können wir anhand von physikalischen und chemischen Regeln erklären“, sagt Singer. Sie gehorchen alle den Naturgesetzen und dem Kausal-Prinzip. „Das bedeutet, es gibt für alles, was im Gehirn passiert, eine Ursache. Die Prozesse im Gehirn passieren nicht einfach aus dem Nichts heraus.“
Diese Milliarden Nervenzellen im Gehirn sind immer aktiv und sind auf bestimmte Art und Weise miteinander verknüpft – und interagieren miteinander, wenn im Gehirn Prozesse ablaufen. Zum Beispiel, wenn das Gehirn eine Entscheidung treffen soll. Jeder einzelne Vorgang und jede Reaktion in den Nervenzellen gehorchen den Naturgesetzen und sind kausal bedingt.
Das Gehirn trifft also eine Entscheidung auf Basis von physikalischen und chemischen Vorgängen. Deshalb muss laut Singer am Schluss eine Entscheidung herauskommen, die entsprechend der organischen Bedingungen im Gehirn am wahrscheinlichsten ist. Und nicht das, was man aus freien Stücken machen will. „Selbst wenn Sie ein Trotzkopf sind und etwas entscheiden, was anderen aufstößt“, erklärt Singer, „dann ist das die Folge der Bedingungen, unter denen Sie entschieden haben. Sie sind nun mal ein Trotzkopf, Ihr Gehirn ist eben so aufgebaut.“
Für den Menschen erscheint es laut Singer natürlich so, dass er in seiner Entscheidung frei war. „Solange mich niemand gezwungen oder mir gedroht hat, habe ich natürlich das Gefühl, ich habe frei gewählt.“Doch das habe nichts mit Willensfreiheit zu tun. „Jede Entscheidung ist die Folge von neuronalen Wechselwirkungen.
Aufgrund von physikalischen und chemischen Vorgängen im Gehirn musste es so passieren, dass man selbst zu dieser bestimmten Entscheidung gekommen ist.“
Viele Kritiker von Wolf Singer argumentieren, dass der Mensch nicht mehr für seine Taten verantwortlich gemacht werden könne. Weil er nicht frei ist – im Sinne, dass er beliebig entscheiden kann – und deshalb schuldunfähig ist. „Doch das ist für Wolf Singer ein Fehlschluss. Die Verantwortlichkeit für das, was Sie tun, haben Sie. Denn Sie haben entschieden und gehandelt – niemand sonst.“Und das sei auch gut so. „Denn wir sind als Individuen in uns geschlossen und handeln so, wie uns das möglich ist.“Anders ist es, wenn das Gehirn zum Beispiel nicht gesund ist und eine falsche Entscheidung trifft, weil zum Beispiel ein Tumor die Prozesse im Gehirn beeinflusst. „Dann trägt der Mensch nicht die volle Verantwortung. Er bekommt mildernde Umstände oder wird als schuldunfähig eingestuft.“
Ein Punkt ist Hirnforscher Wolf Singer darüber hinaus besonders wichtig: „Der Umstand, dass man Entscheidungsprozesse auf neuronale Prozesse im Gehirn zurückführt, nimmt dem Menschen nichts von seiner Würde. Wir sind schließlich keine Automaten.“
Der Neurobiologe glaubt vielmehr, dass dieses Verständnis von Willensfreiheit zu einer Humanisierung in der Rechtsprechung und in der Gesellschaft führen kann. „Ich glaube, man kann so unverkrampfter mit sich umgehen und lernen, sich selbst besser anzunehmen und zu schätzen.“
»Wolf Singer ist emeritierter Professor am MaxPlanck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main. Er forscht über die Aufklärung der neuronalen Grundlagen kognitiver Funktionen. Singer war unter anderem Mitautor von „Das Manifest“in der Zeitschrift „Gehirn&Geist“und äußerte sich darin zusammen mit zehn weiteren führenden Neurowissenschaftlern über die Zukunft der Hirnforschung.